
Viele Patienten, die eine Psychoanalyse machen, fragen sich: „Soll ich hier wirklich alles erzählen?“ Eine schwierige Frage. Nicht wenige Patienten hatten übergriffige Eltern, die immer alles wissen wollten. Verschweigen wurde bestraft. Auch in der Kirche hören wir: „Der liebe Gott sieht alles.“ Da kann man schon mal paranoid werden. Oft ist das Bedürfnis da, dem Psychoanalytiker eben nicht alles zu sagen, besonders dann nicht, wenn es direkt den Psychoanalytiker betrifft. Doch am besten kommt man weiter, wenn man alles erzählt – aber wie kann man sich dann noch abgrenzen?
„Ich schäme mich doch so!“ Manches behält man (zunächst) lieber für sich.
Man kommt weiter
Es ist schwierig, „alles“ zu erzählen und es macht oft Angst. „Hält der Psychoanalytiker überhaupt aus, was ich zu erzählen habe?“, fragt man sich. „Ist der Psychoanalytiker an diesem Punkt selbst empfindlich und möchte ich ihn lieber verschonen? Habe ich überhaupt noch ein Privatleben, wenn ich alles erzähle?“ Das sind berechtigte Fragen. Manchmal ist man einfach noch nicht bereit dazu, etwas Bestimmtes zu erzählen. Doch dann wieder wird es Stunden geben, in denen man sich überwinden kann und feststellt: Das hat mich jetzt enorm weitergebracht. Manchmal kann man es genießen, alles erzählen zu dürfen. Ein anderes Mal kann man es als Druck empfinden, dass man alles erzählen „soll“ – die psychoanalytische Grundregel schwebt manchmal über dem Analysanden wie eine Bedrohung und man kann sich auf der Couch schuldig fühlen, wenn man es nicht befolgt.
Viele Themen tauchen durch das „Gebot“, alles zu erzählen, auf: Schuld, Scham, Verrat, Beichtzwang, Grenzen, „Rein-und-Rauslassen“, Verheimlichen, Lügen, Privatsphäre, Identifikation, Introjektion, Projektion und vieles mehr. Alle diese Themen können in der Psychoanalyse bearbeitet werden. Man kann also sprechen über sein Verlangen, besonders viel oder besonders wenig zu erzählen.
„Man denkt doch immer was, also kann man es auch sagen“, könnte man meinen. Ob man ständig etwas denkt oder nicht, dazu gibt es verschiedene Meinungen. Ich denke, dass man tatsächlich manchmal auch einfach nichts denkt.
Doch wie bleibt die Grenze bestehen?
Die Grenze zwischen Analytiker und Patient bleibt dadurch bestehen, dass sich beide mit Respekt behandeln. Auch hilft mir manchmal das Bild von Eckhart Tolle, das er so gut darstellt und das ich so verstehe: Wir haben so etwas wie eine äußere Hülle, in der wir alles abhandeln. Die Kommunikation und die Identifikation mit anderen, mit unseren eigenen Wünschen, Sehnsüchten und Aggressionen sind in dieser „Schicht“ enthalten. Auch unser „Pain Body“ ist darin enthalten – unser Teil vom Selbst, der so sehr verletzt wurde.
Sozusagen „dahinter“ bleibt jedoch so eine Art „wahres Ich“. Ein Wert des Lebens selbst, der immer vorhanden ist, auch wenn wir schlafen. Unser eigener Atem gehört uns selbst – nur wir bestimmen diesen Rhythmus. In diesem Atem spüren wir unser Leben. Das alles wurde mir klar, als ich mit Yoga angefangen habe. Von da an fühlte ich mich immer abgegrenzt, auch wenn ich „alles“ in der Psychoanalyse erzählte. Die Grenze bildet der Körper, der sich so gut spüren lässt, wenn man sich ausreichend bewegt und regelmäßig Yoga oder ähnliches macht.
Psychoanalyse ist wie eine Beichte
Es kann auch sein, dass man das Gefühl hat, etwas beichten zu müssen. Die Frage danach, ob man wirklich alles erzählen soll oder will, taucht in einer Psychoanalyse immer wieder auf. Doch vielleicht ist es so: Je mehr gute Erfahrungen man mit dem Gesagten macht, desto leichter und entlastender wird es, frei zu erzählen. Man ist dennoch ein „abgeschlossener“ Mensch mit Grenzen. Der Psychoanalytiker ist kein Gott – er sieht weiterhin nicht alles, ähnlich wie wir selbst oft nicht alles von uns erkennen und verstehen.
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Dieser Beitrag erschien erstmals am 11.9.2013
Aktualisiert am 24.2.2022
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