
„Krankengymnastik auf neurophysiologischer Grundlage“ steht auf dem Rezept, das der Kinderarzt der Mutter reicht. So kann es passieren, dass ein Baby die „Physiotherapie nach Vojta“ erhält – je nachdem, an welchen Physiotherapeuten die Mutter gerät. Manchmal verschreibt der Arzt auch explizit „KG-ZNS (Krankengymnastik, Zentralnervensystem) nach Vojta“. Das Baby schreit während der Therapie und die Mutter zweifelt. Von der seelischen Belastung für Mutter und Kind ist höchstens in einigen Online-Foren die Rede, wobei den Müttern oft erklärt wird, dass die Therapie doch gut und wirksam sei. Würde man das Kind nicht nach Vojta behandeln, so würde es später im Rollstuhl landen, so die gängige Argumentation. Doch wie wirksam ist die Therapie wirklich?
Viele aktuelle Studien zur Vojta-Therapie kommen zu guten Ergebnissen. Man gebe bei scholar.google.com beispielsweise „vojta therapy cerebral palsy“ ein und wird fündig. Ob ein Kind „im Rollstuhl landen“ wird oder nicht, kann meines Wissens an keiner Stelle wissenschaftlich behauptet werden. Schon in den 80er Jahren gab es eindrückliche Studien zur guten körperlichen Wirksamkeit der Vojta-Therapie.
Japanische Studie weist gute Wirksamkeit nach. In einer japanischen Studie untersuchten die Wissenschaftler 29 spastisch gelähmte Kinder, bei denen eine hirnorganische Veränderung im Computertomogramm nachgewiesen war. Acht Kinder erhielten die Vojta-Therapie vor dem 9. Lebensmonat, die übrigen 21 wurden erst ab dem 9. Lebensmonat nach Vojta behandelt. Das Ergebnis: Die früh behandelten Kinder konnten im Durchschnitt 8 Monate früher laufen als die später behandelten Kinder. (Kanda, T. et al. (1984): „Early Physiotherapy in the Treatment of Spastic Displegia“ (St. Joseph Hospital for Handicapped, Kyoto, Japan), Developmental Medicine & Child Neurology, Volume 26, Issue 4, pages 438–444, August 1984, http://onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1111/j.1469-8749.1984.tb04468.x/abstract)
Es scheint keine Frage zu sein, dass die Vojta-Therapie körperlich sehr wirksam ist. Im Internet finden sich Videos, die zeigen, wieviel besser sich ein spastisch gelähmtes Kind nach der Therapieeinheit bewegt als vor der Behandlung. Allerdings gibt es ähnlich beeindruckende Videos, die die Effektivität von Osteopathie, Bobath oder Feldenkrais zeigen.
Eine Mutter erzählte mir: „‚Sehen Sie? Diese Effekte hätten Sie ohne Vojta-Therapie niemals hingekriegt‘, sagte der Kinderarzt begeistert zu mir. Ich traute mich nicht, ihm zu sagen, dass ich die Therapie gar nicht durchgeführt hatte, weil ich sie zu schrecklich fand.“ Die enormen Verbesserungen waren in diesem Fall komplett ohne Therapie eingetreten.
Bewegung ist ganzheitlich – sie ist Ausdruck der ganzen Person
Auch, wenn die Vojta-Therapie wirksam ist, so stellt sich die Frage, wie das Zusammenspiel von Bindung zur Mutter und Bewegungsspielraum ist. Meiner Erfahrung nach sind nach Vojta behandelte Kinder später als Erwachsene nahezu unfähig, sich berühren zu lassen. Sie bewegen sich beschämt, haben Schwierigkeiten, sich modisch zu kleiden und leiden an einem extrem schlechtem Verhältnis zu ihrem Körper. Viele fühlen sich wie eingesteift, leiden unter schweren Depressionen und können sich nicht entspannen. Manche Betroffene haben das Gefühl, ihr Körper „fange erst beim Kopf an“ (so formulierte es kürzlich erst wieder ein Betroffener). Eine Betroffene sagte mir: „Mit meinen körperlichen Einschränkungen kann ich gut leben – nicht jedoch mit den psychischen Folgen der Vojta-Therapie.“
Die Vojta-Therapie mag körperlich effektiv sein – doch sie ist meiner Erfahrung nach aus psychisch wirksam. Und die psychischen Folgen sind aus meiner Sicht verheerend. Es gibt viele Betroffene mit einem schweren präverbalen Trauma, die teilweise nichts von der Behandlung wissen. Sie wissen nur, dass sie keinen Partner finden und dass sie unter schweren Ängsten und Suizidalität leiden. Was die Betroffenen mir erzählen, ähnelt den Erzählungen von schwer (sexuell) missbrauchten Kindern.
Weitere frühe Studien zu Vojta-Therapie:
Freeman Miller, Autor des Buches „„Cerebral Palsy“ (2005), sagt Folgendes: „Die Effektivität der Vojta-Technik wurde in unkontrollierten Studien als positiv bewertet (z.B. Imamura S. et al. 1983) … Allerdings zeigt sich in Vergleichsstudien mit anderen Behandlungsansätzen kein positiver Effekt (Harris SR et al. 1988, d’Avignon M et al. 1981). Die Technik wird immer noch großräumig in Europa und Japan angewendet und manchmal auch mit Akupunktur kombiniert. Die Vojta-Therapie wird weitaus seltener in Nord- und Südamerika angewendet.“
(Springer Verlag 2005, Seite 156; 2006 siehe auch hier)
d’Avignon M, Noren L, Arman T: Early physiotherapy ad modum Vojta or Bobath in infants with suspected neuromotor disturbances. Neuropediatrics 1981; 12: 232-241.
Harris SR, Atwater SW, Crowe TK: Accepted and controversial neuromotor therapies for infants at high risk for cerebral palsy. J. Perinatol. 1988; 8: 3-13.
Imamura S, Sakuma K, Takabashi T: Rollow-up study of children with cerebral coordination disturbance (CCD, Vojta). Brain Dev 1983, 5: 311-314
„Aber auch, wenn die Evaluationsstudien methodische Mängel aufweisen, … , ist zu vermuten, dass Fortschritte während der Therapien (Anm.: auf neurophysiologischer Grundlage) zumindest zum Teil diesen zugeschrieben werden können.“ … „Trotz der wissenschaftlich nicht abgesicherten Datenlage werden die Verbesserung der Körperhaltungskontrolle und Verringerung von Sekundärsymptomen wie z.B. Kontrakturen allgemein als Effekte einer Physiotherapie auf neurophysiologischer Grundlage (Anm.: z.B. Vojta oder Bobath) angesehen.“ (Stellungnahme der Gesellschaft für Neuropädiatrie, S. 13)
„Bis heute (Anmerkung: Anfang der 2000er Jahre) ist ungeklärt, inwieweit durch Physiotherapie auf neurophysiologischer Grundlage, insbesondere durch intensive, früh beginnende Physiotherapie, langfristig eine bessere Prognose in Bezug auf die motorischen Fähigkeiten und eine Verminderung der Folgeschäden … erreicht werden kann …“ (Stellungnahme der Gesellschaft für Neuropädiatrie, S. 12, leider ohne Datum und wissenschaftlich nicht mehr aktuell)
Dr. rer. medic. Michael Jung stellte auf dem Bundeskongress Physiotherapie im September 2012 eine kontrollierte Studie zur Wirksamkeit der Vojta-Therapie bei Torticollis (Haltungsasymmetrie des Halses) vor. Hier wurden 19 Babys mittels Vojta-Therapie und 18 Babys mittels anderen Physiotherapiemethoden behandelt. Bei den mit Vojta-Therapie behandelten Babys zeigte sich eine stärkere Besserung als bei den Babys der anderen Therapiegruppe (PDF).
Fernab von allen Wirksamkeitsdiskussionen hier noch ein wohltuendes Zitat einer Kinderphysiotherapeutin Monika Aly (Pikler-Gesellschaft Berlin e.V.). Sie schreibt auf ihrer Website:
„Auch ein Kind, dessen Entwicklung aus verschiedenen Gründen beeinträchtigt ist, braucht keine forcierenden Stimulationen, kein Lernprogramm, sondern eine strukturierende Umgebung und Bewegungs- und Spielangebote, die für das Kind erreichbar und verständlich sind. Auf diese Weise lässt sich in aller Regel mehr erreichen, als mit therapeutischen Übungsprogrammen.“
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Dunja Voos:
Vojta-Therapie bei Babys – ein Aufschrei
Hilfe bei einem speziellen Trauma
Selbstveröffentlichung, 9.2.2021
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Mehr dazu hier im Blog …
Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 27.2.2011
Aktualisiert am 15.7.2021
Melande meint
Hallo Pinocchio.
Nach längerer Pause (PC kaputt) lese ich jetzt wieder in diesem Blog.
Nach Ihrem Kommentar vor ca. 5 Jahren und dem Finden einer für Sie weiterbringenden Therapie würde mich interessieren, wie es bei Ihnen weitergegangen ist.
Ich habe auch oft lange gesucht, bevor ich Helfendes/Helfer gefunden habe, oft jenseits üblicher Standard-Methoden. Dabei vertraue ich auf „meine innere Stimme“ und muß auch manchmal stark sein beim Ablehnen von im Gesundheitsbereich angebotener Hilfen.
Liebe Grüße
Melande
pinocchio meint
guten tag,
ich habe (2001 das erste mal festgestellt) eine PNP unklarer ursache, alle möglichen evtl. in möglichkeit kommenden erkrankungen können ausgeschlossen werden.
meine zehen krallen sich nach innen, der oberfuß hebt sich, der knochen schaut hervor und hebt sich immer weiter empor, die schuhe schmerzen mitlerweile, kann nur noch schnürschuhe ertragen. gangunsicherheit, gehe mit rollator, der fußheber ist „tot“ muskelschwund, ständiges stolpern und fallen, habe mir 2008 den 2. lendenwirbel gebrochen, er wurde fixiert, sorgt für eine weitere behinderung, da diese stelle nun versteift ist.
in der uniklinik köln war ich zur „fußsprechstunde“. der untersuchende arzt empfahl mir eine OP, bei der die zehen versteift sind, aber gerade sind. eine jeweiliges zehenglied würde entfernt, dann der zeh genagelt, nach sechs wochen kommen die nägel raus, dann der andere fuß.
meine physiotherpeutin war entsetzt.
nach vielen diversen therapien bekomme ich seit ca 5 monaten einmal pro woche eine vojta-therapie.
die vorletzte behandlung brachte den bahnbrechenden erfolg, und die letzte behandlung war ebenfalls erfolgreich., und sie sicherte mir zu, dass ich zum jahresende einen funktionierenden fußheber hätte, und dadurch richtig abrollen könnte.
ich hoffe, dass mir mein neurologe weiterhin die therpie verschreibt.
ich finde im zusammenhang mit vojta nur informationen, die säuglinge betreffen. natürlich war er spezialisiert auf kinder, aber keine menschen mit meiner erkrankung.
sehr gerne würde ich mich austauschen. ich habe gelesen, dass man vojta nach anleitung auch zu hause selber ausüben kann, dies erscheint mir zur zeit jedoch unvorstellbar.
ich bin 54 jahre alt.