Passiv-aggressiv – was heißt das eigentlich?

Wenn wir „passiv-aggressiv“ sind, dann haben wir in der Regel Angst vor unserem Gegenüber. Wir wollen etwas erreichen, gehen aber vielleicht davon aus, dass der andere sowieso „Nein“ sagen wird. Wir sind wütend auf den anderen, aber wir meinen, seine Verletzlichkeit zu spüren, und sagen dann vielleicht übertrieben freundlich, was wir wollen oder denken. Vielleicht beneiden wir den anderen sehr, aber wir lieben ihn auch und dann überkommen uns Kopfschmerzen, sodass der gemeinsam geplante Konzertbesuch ins Wasser fallen muss. Unser Kind reißt uns nachts mit Fieber aus dem Tiefschlaf, doch weil wir es in so einem Zustand nicht anblöken können, sprechen wir mit fiepsig-freundlicher Stimme zu ihm, die aber irgendwie Ärger auslöst.

Wenn wir an unerfülltem Kinderwunsch leiden, während die Freundin schwanger ist, können wir eine „lieb gemeinte Bemerkung“ machen. Wir können z.B. sagen, wie sehr wir uns über ihre Blässe sorgen. So wird die Freundin auf eigentümliche Weise in Unruhe versetzt.

Passive Aggression ist oft verbunden mit dem Abwehrmechanismus der „Reaktionsbildung“ (das heißt, wir sind z.B. „scheißfreundlich“ gegenüber jemandem, den wir am liebsten unfreundlich behandeln wollen).

Wir wollen nicht „böse“ sein

Passiv-aggressiv zu sein kann damit zusammenhängen, dass man seine eigenen Aggressionen nicht wahrnehmen möchte, weil sie nicht ins Selbstbild passen. Wir möchten keinesfalls Gewalt ausüben. Viel öfter aber, so denke ich, hat passive Aggressivität mit der Angst vor dem Gegenüber zu tun.

Meistens sind wir denjenigen Menschen gegenüber passiv-aggressiv, die uns nahe stehen, die wir lieben oder von denen wir uns abhängig fühlen.

Passive Aggression hat oft mit frühen, vielleicht sogar unbewussten Vorstellungen aus der Kindheit zu tun. Wer nie wütend sein durfte, wer sich von der Mutter nicht trennen durfte, wer Gewalt durch die Eltern erfuhr, der sieht im anderen immer wieder eine Gefahr, während er gleichzeitig die Verletzlichkeit des anderen wahrnimmt. Es kann die Angst auftauchen, den anderen für immer zu verlieren.

Passive Aggressivität kann entstehen, wenn wir unerwünschte Gefühle haben wie z.B. Neid. Solche Gefühle sind jedoch oft mit einem tiefen Schmerz verbunden. Wer sich nicht traut, sich mit den schmerzlichen Gefühlen dem anderen anzuvertrauen, der kann passiv aggressiv werden, weil er wütend wird darüber, dass er sich einerseits nicht zu sprechen traut, aber andererseits auch im anderen jemanden sieht, mit dem man nicht sprechen kann.

Passive Aggression kann riesige Ausmaße annehmen – manchmal kann sie sogar bishin zur Selbstzerstörung gehen, weil man weiß, dass der andere, der einen liebt, unter dem eigenen „Tod“ (in welcher Form auch immer) leidet. Dann ist die passive Aggression nahe dran an der Rache. Oft hat passive Aggression jedoch eine Grenze und kommt zu einem Umschlagpunkt. Wenn die Wut zu groß wird, dann verlassen wir den passiv-aggressiven Status und zeigen offen unsere Wut.

Obwohl wir oft glauben, es ginge uns besser, wenn wir „es rauslassen“, sind wir oft enttäuscht darüber, dass der Affekt der Erleichterung ausbleibt. Die Lösung liegt wie so oft im gegenseitigen Ernstnehmen: Wenn wir uns selbst ernstnehmen mit dem, was wir spüren und wollen, dann können wir es ernsthaft ins Gespräch mit dem anderen bringen. Und auch den anderen nehmen wir ernster, wenn wir ihn mit passiver Aggressivität nicht weiter verwirren. Oh, da ruft mein Kind … „Jaaaaa, Spätzchen?? Was gieeebt es denn?“

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