
Schwere Traumata, die wir vielleicht sogar schon als Baby erlitten und die insbesondere auch unseren Körper in Mitleidenschaft zogen, können zu lebenslangem Leiden führen. Der Psychoanalytiker Donald Winnicott sagte einmal so etwas wie: „Die einen haben es, die anderen nicht – und das nicht fair.“ Wer früh an Leib und Seele von Mutter und/oder Vater, aber vielleicht auch von Ärzten und Therapeuten, verletzt wurde, der kämpft sein Leben lang mit einer inneren Beunruhigung, die schwer unter Kontrolle zu bringen ist. Jeden Tag auf’s Neue versuchen die Betroffenen, sich zu beruhigen – mehr oder weniger erfolgreich.
Die innere Einsamkeit, die sie erleben, ist oft kaum vorstellbar. Was andere erleben oder sagen, scheint vollkommen bedeutungslos zu sein im Licht des eigenen Leids.
Der Körper ist der Anker
In dem Film „Take these broken wings – Schizophrenie heilen ohne Medikamente“ erzählen zwei ehemals schizophrene Patientinnen von ihren frühen Traumata. Eine der beiden hat davon nachts heute so gut wie keine Alpträume mehr, die andere jedoch träumt sehr oft noch davon. Ich denke, dass diejenige der beiden, die stärker auch körperlich traumatisiert wurde, auch im Alter noch intensiver mit ihrem frühen Trauma beschäftigt ist, da der Körper eine Art Grundanker ist – wurde er beschädigt, ist das Leiden noch mehr eingebrannt, so erscheint es mir.
Werden die Betroffenen älter, spüren sie immer häufiger auch wieder die Beschädigungen ihres Körpers.
„Ich lebe so gesund“, sagt mir ein Patient, „und dennoch sind andere in meinem Alter, die kaum auf ihre Gesundheit achten, viel gesünder als ich.“ Nicht selten sterben früh Traumatisierte früher als ihre eigenen Eltern, weil sozusagen die innere Stresslast den Körper weiter beschädigt. Innerer Hass und innere Zerstörungswut tun ihr Übriges.
Die Autoaggression ist spürbar
Wenn es den Betroffenen im Laufe des Lebens durch harte innere Arbeit besser geht, ist es manchmal so, als gäbe es einen Teil in ihnen, der sie darum beneidet und der sie dann selbst angreift. Schwere körperliche Beeinträchtigungen wir Arthritis, Arthrose, Autoimmunerkrankungen, Herz-Kreislauferkrankungen, Fibromyalgie oder auch verscheidene Ausprägungen des Chronic Fatigue Syndroms können bei den Betroffenen im Laufe des Älterwerdens zum Problem werden. Während man mit 20 Jahren die Panikattacken noch gut übersteht, so belasten Panikattacken im Alter von 50 Jahren das Herz doch merklich. Auch so manches Übergewicht ist den Verarbeitungsversuchen nach frühen Traumata geschuldet.
Die Betroffenen spüren also vielleicht den steten Druck auf ihrem Herzen. Bluthochdruck, Vorhofflimmern oder auch schon frühe Herzinfarkte, Schlaganfälle oder TIA (transitorische ischämische Attacken) können die Folge der immer wiederkehrenden inneren Anspannung und Schwere sein. Doch wie soll man damit umgehen?
Wie mit der inneren Qual und den Bedrohungen umgehen?
Leben ist immer auch ein Kampf. Viele schwanken zwischen der Haltung „Ich gebe mich meinem quälenden, unruhigen Zustand einfach hin“ und der Einstellung „Ich werde jetzt etwas dagegen tun“. Intensives Yoga, intensive Psychotherapien, die Beschäftigung mit Philosophie, Musik oder Kunst können sehr hilfreich sein. Und doch bemerken einige Betroffene, dass es ist, als wollte man kleine Pflaster auf eine große Wunde legen. Die Wunden leben und sie wollen immer wieder besucht und berücksichtigt werden. Manchmal hilft einfach nur Beten und Hoffen. Wer warten kann, erlebt immer wieder auch Gutes. „Good things come to those who can wait“, heißt es – und das erlebe ich immer wieder, sodass auch die Zuversicht im Alter wachsen kann.
Ich glaube, dass jeder für etwas brennt, auch, wenn er es vielleicht noch nicht entdeckt hat. Die Wut des frühen Traumas kann in Tatkraft umgesetzt werden.
Ich hörte einmal von einem Wissenschaftler, der sich in den Kopf gesetzt hatte, so lange zu leben, bis man etwas Bestimmtes nachweisen konnte (waren es Gravitationswellen?). Er hatte es geschafft und wurde 100 Jahre alt. Viele schwer Traumtisierte fragen sich, ob sie das überhaupt wollen oder ob der „schleichende Tod“ ihnen nicht ganz recht kommt, denn es ist sehr schwierig, jeden Tag mit dieser inneren Angst zu leben.
Der französische Schriftsteller Jean Améry (1912-1978) hat sich mit 66 Jahren das Leben genommen, weil er – wie er sagte – die Angst nicht mehr ertrug, die nach seinen Folter-Erlebnissen im Zweiten Weltkrieg entstanden war. Andere jedoch, die Ähnliches erlebten, nahmen sich nicht das Leben.
Ich habe manchmal die Vorstellung, dass Jean Améry vielleicht schon sehr früh psychisch beschädigt wurde und dass er sich nicht allein aus der Verzweiflung über die Folter-Folgen das Leben nahm, sondern dass die Folter-Erlebnisse in Kombination mit frühen traumatischen Kindheitserfahrungen zu viel waren für ihn. Manchmal denke ich, ob das so sein könnte und ob es ihm geholfen hätte, wenn die frühe Kindheit in einer Psychoanalyse Platz gefunden hätte.
Es geht um entscheidende Dinge
Schwer früh traumatisierte Menschen beschäftigen sich vielleicht stärker als andere nahezu täglich mit der Frage nach Leben und Tod und mit der Frage nach Lebenswunsch und Todeswunsch. Ihnen ist das Konzept des „Todestriebes“ von Sigmund Freud vielleicht näher als anderen. Freud sagte einmal, dass in uns oft eine Art Krieg herrsche und dass es lächerlich sei, dass die Kinderfrauen dagegen mit ihrem beruhigenden „Eiapupeia“ ankommen wollten.
Was viele schwer früh Traumatisierte jedoch auszeichnet, ist ihre Offenheit. Viele können tröstliche Musik, warmherzige Blicke und Freuden in der Bewegung und Berührung intensiv aufnehmen. Da es vielen oft so schlecht geht, suchen sie gezielt nach „Rettung“ und nach Dingen, die sie entlasten. Das Leben ist gerade für sie oft ein Wettlauf mit der Zeit. Ich finde es besonders hilfreich, ein Projekt oder ein Ziel vor Augen zu haben, nach dem man strebt. Egal, wie wechselhaft die tägliche Lage ist: Wenn ich mein Ziel im Auge behalte, kann ich durch die Wirrungen hindurch gehen. Und es ist spannend, zu sehen, ob sich das Ziel erreichen lässt oder nicht. Schreiben und erzählen kann man schließlich über alles.
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Studien:
Rooks, Cherie et al. (2015):
Long-Term Consequences of Early Trauma on Coronary Heart Disease: Role of Familial Factors.
Journal of Traumatic Stress Volume 28, Issue 5
October 2015: Pages 456-459
https://doi.org/10.1002/jts.22044
https://onlinelibrary.wiley.com/doi/abs/10.1002/jts.22044
Buchtipp:
Dunja Voos:
Schatten der Vergangenheit.
Trauma liebevoll heilen und innere Balance finden.

Klara meint
Liebe Frau Voss, ja so ist es für mich nachvollziehbarer. Vielleicht ist es auch schwer das Leid frühtraumatisierter mit dem des Jean Amery in Beziehung zu setzen. Er selbst hat es als Verlust des Weltvertrauens beschrieben und als das Erleben das der Mensch zum Gegenmenschen wird. Menschen die das gar nicht aufbauen konnten blicken sicher auch in diese Abgründe. Und dann mag es auch noch die gegeben haben – wie Jean Amery die das Leben danach nicht mehr bejahen konnten,
Ein frühes abgelehnt werden oder nicht geliebt werden erschwert natürlich das Überleben jedweder neuen Katastrophe oder Herausforderung. In meiner Familie gibt es beides. Es gibt Überlebende der Shoah die zurück ins Leben fanden und grundsätzlich eine gute frühe Grundlage hatten.. Es gibt aber auch die, die es nicht schafften und nachträglich zerbrachen, trotz guter früher Grundlage.
Herzliche Grüße , Klara
Dunja Voos meint
Liebe Klara,
vielen Dank für den ausführlichen Kommentar. Natürlich „reicht“ es, was Jean Améry erlebt hat, um sein Leben nicht mehr ertragen zu können. Ich komme mit meiner Idee eher aus der anderen Richtung: Wie kann es sein, dass Menschen, die scheinbar nicht so etwas Extremes erlebt haben, dennoch so unaushaltbare innere Qualen erleben, dass sie diese Qual nicht mehr ertragen können? Ich möchte nichts schmälern von dem, was Améry erlebte – es ist unvorstellbar. Ich möchte jedoch die Frage stellen, ob frühe Qualen im vorsprachlichen Bereich nicht zu ähnlich großen inneren Schmerzen, höllenartigen Zuständen und Ängsten führen können.
Klara meint
Jean Amery hat den größten und systematischsten Zivisisationsbruch in der Geschichte der Menschheit erlebt und überlebt. Genügt das nicht zum nicht mehr weiterleben können oder wollen? Braucht es da noch ein frühkindliches Trauma um es doch noch zu erklären? Vielleicht ist es auch ein wegmachen wollen von unfassbarem. So wie es ein Großteil der Deutschen gerne gehabt hätte. Diese Art der Erklärung war im Nachkriegsdeutschland eine gängige Methode um Wiedergutmachungszahlungen hinaus zu zögern oder zu verhindern. (Das es dem Patienten schlecht geht liegt nicht an der erlebten Shoah – er hatte schon vorher eine schwere Kindheit, psychische Erkrankung etc.)
Jean Amery ist auch an uns zerbrochen, dem Umgang mit dem Trauma nach dem Trauma …