Psychoanalyse ist die „Intensivmedizin“ der Psychotherapie

„Nicht zu sehr in die Tiefe gehen!“ Das ist bis heute eine häufig anzutreffende Vorstellung bei Psychotherapeuten, wenn sie auf schwer traumatisierte Menschen treffen. „Erst stabilisieren, erst Medikamente geben, erst Ressourcen aktivieren!“, heißt es oft. Doch frage ich mich manchmal, ob diese Vorsichtsmaßnahmen nicht mehr für den Therapeuten als für den Patienten gedacht sind. Ein Patient erzählt: „Ich hatte immer Angst, den anderen mit meinen schweren Ängsten anzustecken. Wenn dann die Therapeuten so vorsichtig waren, fühlte ich mich in meiner Angst bestätigt.“ Um einem schwer psychisch kranken Menschen psychotherapeutisch begegnen zu können, braucht es die Sicherheit, dass die eigenen Traumata bereits in der Lehranalyse gehalten wurden.

Viele Psychoanalytiker haben sich in ihrer Ausbildung einem sehr intensiven Selbsterfahrungsprozess unterzogen und nicht wenige Analytiker bleiben auch über die Ausbildung hinaus zunächst oder wiederholt in Analyse, um sich selbst so gut wie möglich zu verstehen. Nur, wer sich selbst sehr gut versteht, kann herausfinden, was in anderen Menschen vor sich geht (siehe auch: Betty Joseph in „Encounters through Generations„, Youtube)<

Ähnlich wie ein Intensivmediziner spezialisiert ist auf körperlich schwer verletzte Menschen, so ist ein Psychoanalytiker spezialisiert auf psychisch schwer verletzte Menschen. Während Psychiater den schweren psychischen Zuständen ihrer Patienten meistens zunächst medikamentös begegnen, sind Psychoanalytiker darauf spezialisiert, sich den oft höchst katastrophalen und chaotischen inneren Welten der leidenden Menschen persönlich zu stellen.

Psychoanalytiker nähern sich in ihrer Ausbildung ihren eigenen Depressionen und psychischen Verletzungen an. Sie beschäftigen sich mit der eigenen „Angst vor dem Zusammenbruch“ (siehe Winnicott-Literatur), mit der eigenen „Verrücktheit“, mit ihren Träumen und Alpträumen, mit ihren Wünschen und Eigenheiten. Beispielsweise müssen angehende Psychoanalytiker*innen in der Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung (www.dpv-psa.de) erst einmal rund zwei Jahre lang viermal pro Woche selbst zur Psychoanalyse gehen, bevor sie nach einer Zwischenprüfung ihren ersten Patienten zur psychoanalytischen Behandlung aufnehmen dürfen.

Psychoanalytiker nutzen quasi „sich selbst“ bzw. die Selbsterkenntnis als Instrument dafür, den Patienten zu verstehen.

Der schwer „gestörte“ Patient kann mit seinen inneren „Terror-Welten“ auf den Analytiker zugehen und im Analytiker zwar Angst und Abwehr, aber auch Resonanz auslösen. Erfahrene Psychoanalytiker sind geübt darin, zu verstehen, was in ihnen selbst abläuft. Sie haben gelernt, Spannungen in besonderem Maße auszuhalten. Sie nehmen die „Rolle“ an, die der Patient ihnen zuschreibt.

Wenn ein Patient den Analytiker als sadistisch verwehrend erlebt, dann kann der Analytiker dies halten und zusammen mit dem Patienten an dieser Vorstellung bzw. an diesem Erleben arbeiten. Er sagt z.B. so etwas: „(Sie glauben also,) ich halte absichtlich etwas zurück, was Ihnen helfen könnte.“ Im Gegensatz dazu könnte man als Therapeut mit weniger Bereitschaft, die „böse Rolle“ anzunehmen, so etwas sagen wie: „Ich erkenne mich darin gar nicht wieder. Ich möchte Ihnen gerne helfen.“

In der Psychotherapie wird oft versucht, dem Patienten eine „korrigierende Erfahrung“ zu ermöglichen. Der Patient soll beim Therapeuten mehr Wärme, mehr Verständnis, mehr Ordnung, mehr Liebe erfahren dürfen als er es bei seinen Eltern erfahren hat. Das ist oft sehr hilfreich und natürlich oftmals auch ein Element bzw. ein „Nebeneffekt“ der Psychoanalyse. Jedoch kommt es dem Analytiker eher darauf an, dem Patienten zu ermöglichen, die schrecklichen Erfahrungen mit ihm nochmals durchleben und besprechen zu können. Der Patient lernt in der Psychoanalyse eher, dass es zu großen Teilen keine „korrigierenden Erfahrungen“ geben kann, sondern dass er mit dem, was er erfahren hat, leben muss. In der Psychoanalyse wird dieser Schmerz jedoch auf besondere Weise aufgenommen.

Ein sehr hilfreiches Element in der Psychoanalyse ist die Präsenz des Analytikers, der den Schmerz, das Unaushaltbare, das Chaos des Patienten aufnimmt und zusammen mit dem Patienten hält. Der Patient, der sich vorher nicht traute, seine Traumata anzuschauen, weil sie zu überwältigend waren, kann nun mit dem Analytiker als Unterstützer die eigene Innenwelt bewusst erleben. Über sehr lange Zeit und immer wieder nimmt der Analytiker das Unaushaltbare des Patienten in sich auf und tut nichts anderes, als darüber zu „träumen“, es psychisch zu erkunden, es mit auszuhalten und zu „verdauen“. Es ist eine Art intensiver Meditation zu zweit, in der oft lange geschwiegen wird und in der der Patient bemerkt, dass seine inneren Spannungen abnehmen.

Psychoanalytiker haben gelernt, das Unbewusste zu verstehen. So verstehen sie die Halluzinationen und das Stimmenhören von Psychotikern zum Beispiel mithilfe der Traumdeutung. Der amerikanische Psychoanalytiker Bertram Karon war auf die Behandlung von Psychosen spezialisiert. Er betonte immer wieder, dass es darauf ankomme, ein emotionales Band zum Psychotiker herzustellen und seine Symptome wie Träume zu verstehen. Therapeuten, die das können, sind zumeist wirksamer als Medikamente. Doch um so wirksam arbeiten zu können, bedarf es einer langen Ausbildung. Nur, wer an sich selbst die Erfahrung gemacht hat, wie groß die eigenen psychischen Kräfte sind, kann den gewaltigen psychischen Kräften von schwer leidenden Menschen begegnen. (Sehr lehrreich sind hier z.B. die Youtube-Videos der amerikansichen Psychoanalytikerin Danielle Knafo.)

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