
Meditation – darunter stellen wir uns in der Regel vor, dass wir alleine oder in einer Gruppe Meditierender auf einem Kissen sitzen und uns darin üben, uns auf etwas zu konzentrieren oder loszulassen. Wir können unseren Atem beobachten, wir können wahrnehmen, unseren Körper erspüren und im Jetzt versinken. In der sogenannten „analytischen Meditation“ (mehr dazu z.B. auf Tibet.de) kann man sich auf ein Thema oder auf ein Objekt konzentrieren, um es zu untersuchen und vielleicht, um einen Knoten zu lösen. Doch manchmal kommen wir alleine nicht weiter. Ich finde, die Psychoanalyse bietet da ganz besondere Mögichkeiten, denn sie besteht zu großen Teilen aus einer „Meditation zu zweit“.
Der Analytiker begibt sich in einen Zustand der frei schwebenden Aufmerksamkeit, während der Patient im Liegen auf der Couch frei assoziiert.
Vielleicht fällt es mir ja schwer, mich in der Stille allein wohlzufühlen. Doch auch das Zusammensein mit einem anderen Menschen bringt mich in große Anspannung. Was dann? Dann kann die Psychoanalyse als eine Form der „Meditation in der Beziehung“ sehr sinnvoll sein, um einmal zu untersuchen, was denn so schwierig ist.
In der Psychoanalyse entstehen starke Gefühle, die so groß werden, als seien sie unter einer Lupe. Wenn ich auf der Couch liege und der Analytiker hinter mir sitzt, passiert ungeheuer viel. Da habe ich dann die Gelegenheit, einmal zu spüren, was denn genau passiert.
Was fühle ich, wenn ich zu zweit bin?
„Was fühle ich gerade?“, fragt sich der Patient in der Analyse. Und er bezieht das Gefühl häufig auf das Zusammensein mit dem Analytiker. Der Analytiker fühlt sich vielleicht an wie eine Bedrohung. Er könnte ein Angreifer sein. Was ist das für ein Gefühl? In der Psychoanalyse darf es sich ausbreiten.
Es fühlt sich vielleicht so an, als würde der Analytiker einen „enteignen“, sodass die eigenen Wünsche, Gefühle und Meinungen schwächer werden. Es kann sich anfühlen, als würde der Analytiker einen bedrängen oder aber man spürt auf einmal die eigene Aggression und Bedürftigkeit und man spürt, wie man selbst den Analytiker bedrängt und sich am liebsten an ihn kletten will.
Vielleicht entsteht auch das Gefühl oder die Phantasie, in den Analytiker einzusteigen oder aber ihn in sich selbst aufzunehmen. Solche Bilder und Gefühle können sexuell gefärbt sein oder auch nicht – es kann sich vielleicht anfühlen, als wäre man wieder wie ein Baby im Mutterleib oder als hätte der Analytiker einen „gefressen“. Es kann auch eine unsichtbare Wand zwischen beiden entstehen – sehr unangenehm. Es entsteht vielleicht das Gefühl, der Analytiker sei gar nicht da.
Für Menschen, die noch keine Psychoanalyse erlebt haben, klingt das vielleicht sehr fremd, aber es sind Gefühle, die durch das Setting (der Patient liegt auf der Couch, der Analytiker sitzt im Sessel dahinter) entstehen. Es kommt leicht zur „Regression“ – man wird zurückversetzt in die Kindheit und fühlt wieder Gefühle, die man als Kind schon bei der Mutter, beim Vater oder beim Geschwister fühlte.
Wer Interesse hat an der „Meditation in Beziehung“ – man könnte auch „Achtsamkeit in der Beziehung“ sagen -, der kann ja beim nächsten Mal schauen, was er fühlt, wenn er an der Kasse in der Schlange steht. Bei Angstpatienten ist das Warten in der „Schlange“ eine typsiche Gelegenheit für eine Panikattacke.
Heute Morgen stehe ich beim Bäcker und der Laden ist voll. Neben mir ein kleiner Junge im Kinderwagen. Ich schaue den Jungen an, er schaut mich an und dann verschämt zur Seite. Ich bin ihm zu nahe, das spüre ich ganz genau. Ich fühle mich auf einmal wie eine Angreiferin, ich wünsche mir, dass der Junge mich wieder anguckt. Dann stellt sich der Vater zwischen uns. Neue Gefühle tauchen auf. Der Junge fühlt sich beschützt und in mir kommt ein Gefühl von „Beleidigtsein“ auf. Ich fühle uns zu dritt: den kleinen Jungen weit weg, der Vater schützend dazwischen und mich „verlassen“ und „weggedrängt“ daneben. Ich gebe diesen Gefühlen Raum und schaue, was damit passiert.
Wenn in der Psychoanalyse solche Gefühle aufkommen, kann man sie groß werden lassen, intensiv spüren und sich da hineinbegeben. MIt der Zeit kann es passieren, dass sich die intensiven Gefühle abschwächen, was angenehm ist, wenn es sich um negative Gefühle handelt. Was ist mit den positiven Gefühlen wie Liebe, Geborgenheit, Freiheit, Sicherheit und Zuneigung im Zusammensein?
Wer an seinen Gefühlen verzweifelt, der kann gerade dann versuchen, sie zuzulassen und sie bewusst immer wieder zu erleben. Dann lassen sich Worte finden, man kann sie besprechen und alleine oder gemeinsam verdauen. Bei schweren psychischen Störungen muss zunächst der Psychoanalytiker die Gefühle des Betroffenen verdauen, weil sie für den Betroffenen selbst zu groß und „unverdaulich“ sind.
Gefühle sind ständig in Bewegung
Auch, wenn es im Alltag gelingt, sich tief in seine Gefühlswelt zu begeben, kann man beobachten, was mit den Gefühlen passiert und wie sie sich verändern. Wie ist es mit dem Partner? Wie fühle ich mich, wenn er neben mir sitzt oder liegt? Welche Gefühle entstehen beim gemeinsamen Essen, beim Radfahren, beim Spaziergang, beim Besprechen, beim Verhandeln von Wünschen? Entstehen Gefühle von Macht oder Ohnmacht? Von Resignation? Von Sich-Ducken oder Überrennen?
Wer sich einmal zur Gewohnheit macht, bewusst auf die Gefühle zu achten, die in der Beziehung entstehen, wird erstaunt sein, was da alles passiert. Man kann leicht erschrecken, man möchte es wegwischen oder man ist überrascht. Zuneigung, Ablehnung, Ekel, Müdigkeit, Unruhe, Langeweile, Interesselosigkeit, verschiedenste Körpergefühle, Wärme, Kälte, Isolation, Überwältigtsein – all das und noch viel mehr kann sich einstellen. Achten wir mal darauf – es ist sehr wichtig.
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Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 20.6.2019
Aktualisiert am 5.3.2021
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ibag meint
Eine gute Möglichkeit seine Gefühle zu testen ist die Reaktion, wenn sich jemand auf einem Zweiersitz in Bahn oder Bus dazu setzt. Fühle ich mich bedrängt, freu ich mich, setz ich mich weg usw. Das ist von Person zu Person unterschiedlich, sind meine Erfahrungen als eine Vielfahrerin mit öffentlichen Verkehrsmitteln.