
Bis zu einem gewissen Zeitpunkt hab‘ ich’s im Griff: Die Angst ist spürbar, aber handhabbar. Die Übelkeit macht sich bemerkbar, vielleicht habe ich mir einen Virus eingefangen, aber ich kann mich zusammenreißen. Der Druck ist da, aber ich kann warten. Die Kurve steigt an. Immer weiter. Und plötzlich, wie in einem Wehensturm, schwappt es über: Es ist eindeutig eine Magen-Darm-Grippe, ich muss alles stehen und liegen lassen. Ich renne und ergebe mich. Es ist eine Panikattacke, ich muss den Raum verlassen. Ich kann dem Druck nicht widerstehen, ich explodiere.
Dieser Punkt, an dem es zu viel wird und uns unser Wille verlässt, ist ein Graus. Immer wieder hat Freud so recht: Wir sind nicht Herr in unserem Haus. Vor allem nicht mehr ab einem bestimmten Punkt. Wir versuchen alles, um uns zu kontrollieren, doch immer wieder kommen wir an diesen Punkt, wo das andere größer wird als wir es sind.
Anpassung
Der ursprüngliche Wille verändert sich. Er passt sich dem Übermächtigen an: Jetzt will ich auch nur noch ins Bett, verzichte gerne auf den Termin, auf den ich mich so gefreut hatte. Nun will ich nicht mehr für Frieden kämpfen und mich zusammenreißen, nun will ich entsetzlich wütend sein. Nun will ich die Augen nicht mehr aufhalten, da der Schlaf, die Schwäche über mich kommt. Mein Wille kämpft nicht mehr. Er hat aufgegeben.
Wenn ich mich erhole, möchte ich es das nächste Mal besser machen. Länger durchhalten. Willensstärker sein, bewusster sein, vorbeugen. Aber geht das?
Wir setzen uns unter Druck, wenn wir vorhaben, etwas im Griff zu haben. Wir können das Leben nicht kontrollieren. Wenn wir das akzeptieren, spüren wir vielleicht, wie wir eine Art von „Kontrolle“ erhalten, wenn wir die Kontrolle aufgeben.
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Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 8.1.2019
Aktualisiert am 5.4.2021
Dunja Voos meint
Liebe Melande,
vielen Dank für Ihren wertvollen Kommentar. Die Kontrolle aufzugeben ist tatsächlich auch eine wunderbare Möglichkeit für die Momente, in denen „der Wille nicht reicht“. Danke für die Anregung.
Ihnen auch ein schönes Wochenende!
Herzliche Grüße,
Dunja Voos
Melande meint
Es ist für mich eine große Erleichterung, dass ich inzwischen fest verinnerlicht habe, in Situationen, in denen ich durch ähnliche negative Umstände wie vorstehend beschrieben „geschockt“ werde, die KONTROLLE über meine verbalen Äußerungen AUFGEBEN kann und darf. So weiß ich nun, dass ich dem großen Druck aus Angst, Hilflosigkeit, Verzweiflung und dem Gefühl des Ausgeliefert-seins etwas entgegenzusetzen habe.
Ich nehme Ihren Beitrag vom 16.02.2019 („Liebes, du darfst mich hassen.“), als Bestätigung dafür, dass das, was ich als „Voll-die-Sau-`rauslassen“ beschrieben habe, für mich ein gangbarer Weg sein DARF. Und dass ich so vielleicht die Angst VOR weiteren ähnlichen Situationen verliere.
Herzlichen Dank und ein schönes Wochenende!
Melande
Melande meint
Genau das („Kontrolle aufgeben und mich dem Fluss meiner Natur hingeben“) habe ich kurz vor und während einer Augenoperation (grauer Star, neue Linse einsetzen) in einem Universitätsklinikum getan:
Ich habe mir erlaubt, meinen Impulsen verbal voll freien Lauf zu lassen und habe lautstark gegen die unmöglichen Begleitumstände, die Behandlung meiner Person (abgesehen von der handwerklich-technischen Operation an sich) prostestiert, bis die drei (pardon) „maskierten Gestalten“ sich so (nämlich ruhig und freundlich) verhalten haben, wie ich es gebraucht habe.
Die Einzelheiten, den gesamte Ablauf – –
(Ich wurde rückwärts, also ohne Sicht auf den OP-Raum, hineingeschoben und durch alle möglichen lauten Geräusche hinter mir, mit denen ich nicht gerechnet hatte und die ich nicht einordnen konnte „überfallen“, u. a. ein lautes „Ding-Dong-Ding-Dong!!“, ntrgl. als Handysignal eingeortnet. Meine Frage nach Beruhigungmittel (meine Angst vor der OP und einen bereits erlittenen Operationsschaden hatte ich in einem sehr kurzen Vorgespräch mit dem leitenden Professor erwähnt) wurde so beantwortet: „Wir machen das hier mit Musik.!“ Die eingespielte Musik hatte mich aber nicht beruhigt, sondern noch mehr aufgepuscht……….)
– – schreibe ich hier jetzt nicht (die Entrüstung ist noch zu frisch), damit ich über die Erinnerung meine Angst und Hilflosigkeit nicht noch mal spüren muß.
……….
……….
Die 15 Minuten der Operation, bei der ich das Auge still halten und permanent in ein grelles Licht mit drei dunkleren sich bewegenden Kreisen gucken mußte, waren (auch wenn ich keine Schmerzen hatte) die schrecklichsten Minuten meines ganzen Leben. Zwei ganz starke Impulse kämpften in meinem Innern miteinander: Hilfe, Hilfe!! Bloß weg hier!! und Nicht-können, Nicht-dürfen…. So stelle ich mir Folter vor (natürlich dann auch mit großen Schmerzen verbunden).
Neulich gebrauchte jemand für solche OP-Abläufe die Worte: „Fabrik-Chirurgie im Akkord-Modus“, wo wohl unter dem anscheinend enormen zeitlichen und sonstigen Druck vergessen wird, dass wir Patienten denkende und fühlende Menschen sind, die ein Recht haben auf einen höflich-ruhig-freundlichen Umgang mit ihnen und erklärende Worte. Zumal man bei kurzen ambulanten Operationen ja bei vollem Bewußtsein alles mitkriegt.
Um zu dem Thema „Selbstkontrolle“ zurückzukommen:
Mir hat das (mir fällt leider nur dieser negative Ausdruck ein…..) „voll-die-Sau-`rauslassen“ jedenfalls sehr geholfen, das Ganze zu überstehen. Und ich hoffe, ich habe den dortigen Akteuren Impulse zum kritischen Reflektieren dagelassen, um Veränderungen und Verbesserungen anzustreben.
Melande