
„Da bin ich vor dem Chef ausgerastet – das hat mich meinen Arbeitsplatz gekostet“, sagt ein Klient im Coaching. „Ich kam einfach nicht mehr aus meinem Bett raus. Ich konnte diese Ängste nicht mehr steuern“, sagt eine Patientin. Wir alle kennen Kräfte in uns, die stärker sind als wir selbst, also stärker als unser Wille oder unser bewusstes Ich. Vielleicht kann man sagen: Je schwerer die Kindheit, desto stärker sind diese Kräfte in uns, die uns scheinbar oder auch real manchmal alles zunichte machen. Das Problem mit diesen Kräften ist, dass wir da oft nicht genauer hinschauen wollen, denn es handelt sich meistens um negative Kräfte, um komplizierte Affekte und aversive Gefühle. Das Unbewusste nimmt überhand und steuert uns.
„Wenn ich eine Panikattacke habe, kann mich niemand mehr erreichen. Und auch ich selbst kann noch so vernünftig auf mich einreden – ich kann nichts tun, außer zu warten, bis die Panik vergeht.“ Hier passiert vieles, was wir nicht sehen können oder wollen. Wir wehren ständig ab und das macht die Probleme größer.
Hinschauen und Beobachten
Wenn wir übermannt werden von unseren inneren Kräften, können wir manchmal nicht viel tun. Aber genauso, wie wir weiter atmen, so können wir uns weiterhin selbst beobachten. Wenn wir uns vornehmen, hinzuschauen und zu beobachten, kann etwas ganz Neues mit diesen Kräften passieren: Sie sind zwar da, aber wir können sie wahrnehmen, sehen, fühlen, innerlich beobachten und vielleicht irgendwann sogar beschreiben. Allein das Beobachten-Können gibt uns das Gefühl, nicht ganz passiv, ohnmächtig und wehrlos zu sein.
Psychoanalyse, Meditation, Yoga, Qi Gong, ein Gespräch mit dem Freund – alles Mögliche kann helfen, sich selbst zu beobachten.
Die Wahrheit lieben
Durch die Psychoanalyse habe ich Eines zu schätzen gelernt: die Wahrheit. Was das genau ist, darüber streiten sich ja die Geister, aber ich denke, es gibt eine „innere Wahrheit“, die wir nicht verleugnen können. Zu Beginn einer Psychoanalyse möchte man vieles nicht hören – zu groß ist der Schmerz, zu stark die Weglauftendenz. Doch wer einmal wirklich begriffen hat, dass Verleugnen nicht hilft, sondern dass das Anschauen der Wahrheit einen weiterbringt und wieder handlungsfähig macht, der kann sich vielleicht auf einmal an den unmöglichsten Stellen freuen. Kritik lässt sich ganz neu wahrnehmen – man kann sie ganz neu annehmen.
„Ich hörte mich sprechen und sah mich tun … Ich wollte das so doch gar nicht!“
Manche Kräfte in uns verhelfen uns zu einer Kraft, die wir vorher nicht kannten. Es ist die Kraft, sich der Wahrheit zu stellen und zu merken: Dieses Stückchen Wahrheit bringt mich wieder weiter. So kann die Angst vor den ungeheuren inneren Kräften manchmal langsam zurückgehen, weil man weiß: Diese Kräfte haben ihre Berechtigung und sie bringen mich weiter, wenn ich sie nur beobachten kann.
Häufig rührt die nicht zu steuernde oder zu bändigende Kraft in uns aus einer schädigenden Beziehung am Anfang unseres Lebens. Und manchmal, in einer guten Beziehung, spüren wir, dass es noch etwas Größeres gibt als unsere innere zerstörerische Kraft: die Kraft des anderen, der uns über den Rücken streicht und unseren inneren Tumult beruhigen kann. Doch das ist oft eine „Luxus-Erfahrung“ – schwer traumatisierte Menschen sind oft auf sich alleine gestellt und gezwungen, ganz eigene Wege zu finden.
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Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 5.9.2018
Aktualisiert am 2.5.2021
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