
Es ist schwierig mit dem Bösen. Da gibt es Massenmörder und Menschen, die keine Schuld empfinden können. Vieles überschreitet unsere Vorstellungskraft und Grenzen. Aber auch schon im kleinen, alltäglichen Rahmen ist es sehr schwierig mit „dem Bösen“. Viele Menschen gehen mit sich selbst hart ins Gericht. Sie blicken ungnädig auf sich selbst und können sich kaum etwas verzeihen. „Wahrheitsliebe“ ist ein ähnlich großer Begriff wie „das Böse“. Wohl die meisten Menschen suchen die Wahrheit und sagen von sich, dass sie die Wahrheit lieben. Das Problem beginnt dort, wo die „Wahrheit“ das eigene „Böse“ betrifft. (Text & Bild: © Dunja Voos)
Wir fühlen nicht, wenn wir zu streng mit uns sind. Sobald wir uns eifersüchtig, neidisch, schuldig oder wütend fühlen, wehren wir ab. „Der andere hat mehr Schuld“, sagen wir. Oder wir engagieren uns in Projekten zur „gewaltfreien Kommunikation“ und merken nicht mehr, wieviel Gewalt wir selbst in der Kommunikation ausüben. Der Teufelskreis entsteht dann, wenn wir einen harten, undistanzierten Blick auf uns selbst haben: Dann wehren wir „das Böse“ in uns ab, bevor wir es überhaupt wahrnehmen können und behaupten, die Außenwelt sei böse (Abwehrmechanismus: Projektion).
Entschuldigung
„Dass er eine schwere Kindheit hatte, entschuldigt nicht, dass er uns ständig aggressiv behandelt (oder schlimmer: dass er sein Kind missbraucht).“ Ja, er müsste doch andere Wege gehen können und Verantwortung tragen, sagt die Moral. Wir fragen gerne bei anderen: Was kann man entschuldigen und was nicht?
Doch was können wir bei uns selbst entschuldigen?
Wer Gewalt erlebt hat, merkt oft nicht, wie die Gewalt in ihm eingebrannt ist, wie er quasi einen Stempel mitbekommen hat. Macht der Betroffene dann eine Psychoanalyse, ist es für ihn sehr schmerzhaft zu entdecken, dass er selbst auf vielen Ebenen Gewalt ausübt, ohne es zu merken. Wie kann da die Wahrheitssuche fortgesetzt werden?
Die Maßstäbe, die wir bei anderen ansetzen, setzen wir auch bei uns selbst an. „Ich kann es mir nicht verzeihen, dass ich bei meinem Baby die Vojta-Therapie durchgeführt habe“, sagt so manche Mutter. Dass sie damals nur das Beste wollte, kann sie kaum sehen.
Das „Böse“ in uns fühlt sich mitunter schrecklich an. Wir schauen neidisch die Schwangere an, wenn wir selbst schon lange einen Kinderwunsch haben. Heimlich und fast unmerklich wünschen wir uns, dass es bei der anderen schiefgehen möge. Schwangere leiden unter dem „bösen Blick“ der anderen Frauen. Ältere Frauen blicken mit Neid auf die jüngeren – das ist das Thema vieler Märchen.
Verstehen
Der Weg zur Wahrheit über das eigene „Böse“ führt immer und immer wieder nur über liebevolles Verstehen. Übergewichtige wissen, dass ihr Gewicht keineswegs mit dem Willen zu tun hat, sondern dass viel mehr dahinter steckt. Magersüchtige wissen das auch.
Viele Pädophile schämen sich massiv für ihre Pädophilie – andere haben dafür gar kein Gefühl. Sie sind vollkommen „bewusstlos“. So mancher Stalker leidet ebenso unter dem Stalking wie sein Opfer. Dass Alkoholabhängigkeit eine Krankheit ist, haben wir verstanden. Aber wir müssen noch viel, viel mehr verstehen.
Nicht jeder ist fähig, Verantwortung zu tragen. Man muss ein Mindestmaß an „Ich-Gefühl“, Liebe, Selbstwirksamkeitsgefühl und Mentalisierungsfähigkeit erhalten haben, um „Verantwortung“ tragen zu können. Fehlt das, wirken diese Menschen tatsächlich abgrundtief „böse“. Manche sind davon nicht zu erwecken.
„Ich spürte den unbändigen Drang, mir selbst etwas anzutun. Ich hatte echt Angst, ich würde mich gegen meinen Willen umbringen.“ Die zerstörerische Kraft in uns, die Sigmund Freud als „Todestrieb“ bezeichnete, kann zur echten Herausforderung werden. Hier herrscht oft Verwirrung – so starke Impulse, sich selbst zu verletzen, entstehen oft dann, wenn sich schon lange viele Gefühle und Feindseligkeiten aufgebaut haben, aber auch, wenn sich Phantasien der eigenen Mutter in einen selbst gesetzt haben. Eine Mutter, die in ihren tiefsten Phantasien ihrem eigenen Kind nicht gönnt, zu heiraten, kann möglicherweise bewirken, dass das Kind Selbsttötungsimpulse hat, sobald es geheiratet hat. Das klingt vielleicht sehr platt, doch solche Zusammenhänge können in mühevoller psychoanalytischer Arbeit manchmal hergestellt werden.
Untergeben
Bei unseren „Alltags-Bösheiten“ geht es darum, unsere Fähigkeiten und unsere Beobachtungsgabe einzuschalten und immer wieder zu versuchen, uns selbst zu verstehen. Wir haben unsere Grenzen und unsere Schicksale.
Wenn uns körperlich übel wird, dann müssen wir uns übergeben. Mit der Seele ist es nicht viel anders: Sie läuft sozusagen über, wenn es uns zu viel wird, wenn wir eingesperrt, alleingelassen, gequält, gezwungen oder bedroht werden.
Wenn wir begreifen, dass wir von unseren Gefühlen überschwemmt werden können, dass wir oft nicht Herr in unserem Hause sind und dass wir oft gegen unseren Willen „böse“ sind, dann können wir es wagen, nach unseren inneren Wahrheiten und Schuldigkeiten zu suchen, sie zu verstehen und sie kennenzulernen.
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Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 31.3.2018
Aktualisiert am 8.10.2021
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