
„Immer, wenn ich Progressive Muskelentspannung (PMR) nach Edmund Jacobson (1885-1976) mache, bekomme ich die Krise. Noch schlimmer ist Autogenes Training, weil da die Muskulatur nicht angespannt wird. Ich habe das Gefühl, mein Herz fängt an zu rasen und ich will nur noch weglaufen. In der Gruppe ist es genauso schlimm wie allein oder zusammen mit meinem Lehrer. Wie kommt das?“ Die starke Beunruhigung bei Entspannungsverfahren hat bei frühtraumatisierten Menschen einen ernsten Hintergrund: Viele Betroffene haben erlebt, dass die nächsten Bezugspersonen – meistens Mutter und/oder Vater – noch im vorsprachlichen Bereich zum Angreifer wurden. Das ist aus meiner Sicht besonders extrem, wenn der Betroffene z.B. die Vojta-Therapie als Baby erhalten hat.
Der körperliche und psychische Angriff durch die wichtigsten Bezugsperson in einem Alter, in dem man noch keine Sprache hatte, ist aus meiner Sicht die schwerste Form der Traumatisierung, da das Leben des Babys existenziell bedroht war. Diese tiefe Form der Erschütterung bleibt als eine spezielle Form der Erinnerung bestehen.
Verharmlosung verstärkt das Problem
Mit Sätzen wie „Es sind doch nur Gedanken“ wird man den Betroffenen nicht gerecht, weil sie nicht stimmen. Es sind nicht die Gedanken, die sie beunruhigen, sondern die unaussprechliche Form der Erinnerung, in der das Leben nicht nur bedroht wurde, sondern die Hölle war.
Wenn der nächststehende Mensch in der frühen Phase des Lebens überwiegend bedrohlich war, dann heißt das später, dass auch der Therapeut oder der mögliche Partner die Quelle größter Gefahr sein könnten. Sitzt man als Betroffener in einer Gruppe von weniger traumatisierten Menschen, kann man verzweifeln: Während andere das „Entspannungsverfahren“ als wirklich entspannend empfinden, könnte man selbst nur noch schreiend und von Angst überwältigt davonlaufen. „Was stimmt nicht mit mir?“, fragen sich die Betroffenen.
„Wehre Dich nicht mehr“ ist dann häufig ein weiterer Satz, der das persönliche Empfinden nur noch schlimmer macht. Wenn wir von außen einen Schlag auf den Bauch bekommen, schützt sich der Körper, indem er anspannt. Die Anspannung ist dann der Schutz. Eine Entspannung könnte in diesem Fall tödlich enden.
Wenn wir uns als frühtraumatisierte Menschen also entspannen sollen, dann kann das aus psychologischer Sicht einem Todesurteil gleichkommen.
Es geht nicht, dass man sich entspannt! Es hätte früher vielleicht den Tod bedeutet, sich zu entspannen: Anspannung, lautes Schreien, Sich-Wehren und Kämpfen haben das Überleben vielleicht nur möglich gemacht.
Immer präsent
„Ja, aber es ist heute nicht mehr aktuell und nicht mehr sinnvoll“, heißt es dann oft. Hierdurch fühlen sich die Betroffenen nur noch mehr missverstanden. Auch der Urknall ist heute nicht mehr aktuell und doch würde die Welt ohne ihn, so wie sie ist, nicht bestehen.
Was den Betroffenen aus meiner Sicht hilft, ist zunächst ein tiefes Verständnis für die innere, chaotische, gewaltvolle Welt.
Als Betroffener braucht man jemanden, der anerkennen kann, dass die innere Welt voller schwerer Bedrohung ist. Und diese Bedrohung braucht eine entsprechende Reaktion – dazu gehört als Erstes ein wirkliches Ernstnehmen. Es braucht ein Verstehen, dass es das Böse, dass es die Hölle wirklich gibt. Der Betroffene hat sie erfahren und es ist tief in ihm eingeschrieben. Der Satz „Es sind nur Gedanken“ erweckt die stärkste Gegenwehr, weil der Betroffene zutiefst spürt, dass das nicht die Wahrheit ist.
Ernstnehmen und Anerkennung sind wichtig
Entspannungsverfahren funktionieren bei schwer frühtraumatisierten Menschen nur, indem man die frühen Angriffe sehr ernst nimmt und würdigt. Es funktioniert nur, wenn man versteht, dass die Entspannung der Muskulatur zunächst einmal Todesangst bedeuten kann. Es besteht die psychische Vorstellung, dass da von außen jemand schlägt und man in der Entspannung seinen Körper wehrlos zur Verfügung stellt. Dabei ist doch Wachsamkeit aus Sicht der Betroffenen die einzige Lösung.
Tröstlich wirkt hier vielleicht die Bach-Kantate „Wachet! Betet!“ (Cantata Bachwerkeverzeichnis 70, Youtube). Meditation und Beten gehen oft ganz gut, weil es ein „Sich-Konzentrieren-Auf“ ist und nicht primär ein „Sich-Abwenden“ oder „Loslassen“.
Bei dem Versuch, zu entspannen, ist es für schwer Frühtraumatisierte, als würden sie sehenden Auges auf ein Feuer zugehen und sich verbrennen lassen oder als würden sie sterben und erneut in die Hölle wandern, weil sie nicht aufgepasst haben, was da vor ihnen liegt. Vielleicht hätte ein Schritt nach rechts die Erlösung bedeutet. Also muss der Frühtraumatisierte ständig aufpassen.
Es bleibt
Dieses „Aufpassen-Müssen“ bekommt man nicht einfach „weg“. Die Beruhigung der HPA-Achse (Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse) und die Stärkung des parasympathischen Nervensystems (z.B. durch Yoga) kann schon nachhaltig wirksam sein und es ist wichtig, dass sich die Betroffenen auf den Weg machen, Entspannung für sich zu finden, denn sonst wird das ewige Höllen-Gefühl an sich zur neuen Gefahr. Doch dies kann nur in winzigsten Schritten geschehen und in dem Respekt davor, dass der Betroffene die Hölle real erlebt hat und weiß, dass es sie gibt.
Es geht bei den schwer Frühtraumatisierten besonders auch darum, unterscheiden zu lernen und hier eignet sich Yoga hervorragend, weil es sich auch um die richtigen und falschen Wahrnehmungen kümmert.
Wenn ich einem liebevollen Menschen an einem warmen Sommertag begegne, dann ist es schwierig, wenn ich dies noch immer primär für eine Gefahr halte. Schwer frühtraumatisierte Menschen kennen die Hölle, aber sie müssen den Himmel oft erst langsam kennenlernen.
Doch auch im Gefahrlosen steckt immer das Potenzial des Gefährlichen. Auch die gütigste Mutter kann gefährlich werden, wenn sie Hunger leidet, in die Ecke gedrängt wird, wenn sie wütend wird oder selbst die Situation verkennt, weil sie selbst die Hölle erfahren hat. Auch in der schönen, warmen Sonne kann man sich einen Sonnenbrand holen. Entspannungverfahren wirken bei schwer Frühtraumatisierten nur, wenn das Thema „potenzielle Gefahr“ berücksichtigt und nicht verleugnet wird. Nur so lässt sich dann nach und nach – und unter Vorbehalt – entspannen.
In vielen Schulen können Kinder und Jugendliche heute Autogenes Training, Yoga oder Meditation erlernen. Die Schüler sind dann einem Gruppendruck ausgesetzt und trauen sich oft nicht, zu sagen, wenn sie sich dabei unwohl fühlen. Hier sollten Lehrer sehr sensibel sein und die Schüler dazu ermuntern, darüber zu sprechen und aus dem Programm auszusteigen, wenn es ihnen nicht gut damit geht.
Johannes Heinrich Schultz, der Nervenarzt, bezeichnete autogenes Training – was er entwickelt hatte – 1932 noch als ‚psycho-physiologisch rationalisierten, systematisierten Yoga‘. Später stritt er jede Verbindung ab.“
Milena Mosa: Schlampen-Yoga, Karl Blessing Verlag 2003, 1. Auflage: S. 79
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Dieser Beitrag erschien erstmals am 27.5.2012
Aktualisiert am 1.10.2021
Marcel meint
Meinen Erfahrungen nach helfen mir Entspannungstechniken, punktuell in einer erhöhten Streßphase ganz gut. Allerdings soll es ja erst bei regelmäßiger Anwendung zu dauerhaft, positiven Effekten kommen, was bei mir aber so nicht funktioniert.
Ich denke die Verspannung im Körper entsteht um aufkommende Gefühle/körperliche Reaktionen, im Kontakt mit der Außenwelt abzuschwächen, bzw. weniger zu spüren, oder eben auszuhalten.
Wird diese „Schutzfunktion“ abgebaut ohne die Auslösereiz gebundene Erlebnisweise zu beachten, fühlt man sich danach noch verlohrener, weil die Reize dann viel spürbarer wahrgenommen werden, als vor dem ganzen Entspannungstraining.
Lea Assmus meint
In einer Klinik für Psychosomatik besprach ich mit dem Therapeuten diese Beobachtung und er meinte: „Bei Ihnen wäre Autogenes Training etwa dem versuch gleichzusetzen ein Auto bei Tempo 120 mit einem Seil festhalten zu wollen!“ Wohingegen PMR (Progressive Muskel-Relaxation) mir sehr gut bekommt und hilft; man muss als Patient ein gutes Gespür entwickeln welche Maßnahmen wann gut tun. Aber das ist ja bei vielen Krankheiten so: einem Schmerzpatienten hilft Kälte, dem anderen Wärme.
Fred meint
Ist auch unsere Erfahrung, wenn wir Entspannungsübungen in der Selbsthilfegruppe machen: Es gibt immer einige, die innerlich unter Anspannung und Druck stehen. Wenn es innerlich ruhig wird, wird es eher schlimmer, als besser. Ablenkung und tätig sein hingegen beruhigt dann eher.
Langfristig erscheint es mir jedoch sinnvoll, irgendwie einen Weg zu finden, wie ich auch bei Ruhe und Nichtstun meinen inneren Frieden finde.
Kevin Michael meint
Ich leide auch an einer Angststörung oder Hypochondrie schwer zu sagen was genau aber jedenfalls teile ich diese Erfahrung und verzichte ebenfalls auf diese Entspannungstechniken. Sport tut mir hingegen sehr gut.