
Es fühlt sich echt an: Brustschmerzen, die in den linken Arm ausstrahlen, Atemnot, Herzrasen und Todesangst lassen an einen Herzinfarkt denken. Vielleicht haben sich in Herzuntersuchungen schon erste Anzeichen einer Herzerkrankung gezeigt, vielleicht jedoch haben sich noch keine krankhaften Befunde ergeben. Die sogenannte „Herzneurose“ (Herzphobie, Herzangststörung, Kardiophobie, Herzsyndrom) ist eine Angst ums Herz, die so manchen verzweifeln lässt. Manche Menschen mit der Diagnose „Vorhofflimmern“, „Rhythmusstörung“ oder „Herzklappeninsuffizienz“ leiden besonders unter starken Ängsten. „Jetzt hat’s mich aber wirklich erwischt!“, denkt sich der Betroffene beim nächsten Anfall von Herzrasen, Panikattacken oder Engegefühlen.
Wenn sich in einer Echokardiographie zufällig ein harmloser Mitralklappenprolaps (MKP) herausstellt, dann erklärt der Arzt dem Patienten manchmal, dass dies die Ursache für die ängstlichen Attacken sein könnte. Einige Studien sagen jedoch, dass der Mitralklappenprolaps nicht ursächlich für die Herzangstneurose verantwortlich ist (Crowe et al. 1980, Margraf et al. 1988). Doch der Patient sorgt sich von Stund‘ an um seine Herzklappe, obwohl es sich sozusagen nur um einen „Schönheitsfehler“ handelt.
Stresszeichen während der Untersuchung sind normal. Die Sorge, das Herz könnte stehenbleiben, steht bei vielen Betroffenen an erster Stelle. Nicht selten werden sie von Untersuchung zu Untersuchung geschickt, denn während eines „Anfalls“ kann es durchaus sein, dass das Elektrokardiogramm (EKG) auch Stresszeichen zeigt, wie zum Beispiel eine beschleunigte Herzfrequenz und Extraschläge (Extrasystolen).
Das Leiden lässt sich nicht wegreden
Nicht jeder Betroffene hat dieselben Beschwerden. Herzphobiker leiden unter panikartigen Anfällen, Herzhypochonder sorgen sich ständig um ihr Herz und Herztodphobiker sind sich gewiss, irgendwann am Herztod zu sterben. Wie auch immer: Die Symptome quälen sehr, das Leiden ist groß, die Beruhigung durch den Arzt hält nur wenige Stunden an. Viele (früh-)traumatisierte Menschen spüren auch, wie ihre inneren Spannungszustände auf Dauer das Herz belasten. Es ist für sie oft eine traurige Feststellung, dass sie ihre Spannungszustände oft nicht kontrollieren können und dadurch ihr Herz belastet wird. Mit diesen Sorgen zu leben, ist nicht leicht (siehe: Frühtraumatisierte haben Angst um ihr Herz). Manche Patienten wünschen sich Beruhigungsmittel, doch die helfen nicht, denn was beunruhigt, ist etwas anderes.
Psychologen teilen die Herzneurotiker ein in A- und B-Typen. So genannte A-Typen sind eher passiv und neigen zur Depression. B-Typen sind solche, die im Sommer braun gebrannt und mit stählernem Körper an einem vorbei joggen. Pro-aktiv versuchen sie, ihren Körper in Bestform zu halten und „flüchten“ sich in die Gesundheit. Sie überspielen gerne ihre Angst vor einer Herzkrankheit.
Von Hass und Liebe
Wer psychotherapeutische Hilfe annimmt, der kann vielleicht herausfinden, woher die Angst um’s Herz oder die tatsächliche Herzbelastung rühren kann. Vielleicht ist der Betroffene schwer frühtraumatisiert, sodass Spannungszustände immer wieder das Herz belasten. Vielleicht ist es zu schweren Konflikten in der Innen- und Außenwelt gekommen, die sich um Hass und Liebe drehen. Möglicherweise gibt es Probleme mit Kollegen und Vorgesetzten am Arbeitsplatz.
Oft kommt es auch in Trennungssituationen zu den ersten Anfällen: Beim Auszug von Zuhause, zu Beginn des Studiums, während der Scheidung oder durch den Tod des Partners kann das Herz leiden. Je nach Lebensalter ergeben die Herzuntersuchungen keinen krankhaften Befund. Um die Lebensmitte zeigen sich vielleicht erste, objektive Beschädigungen des Herzens. Hier beginnen viele Betroffene, sich die Frage zu stellen, wie sie ihr Leben vielleicht noch einmal verändern können oder wie sie mit der Beschädigung weiterhin umgehen möchten.
Die meisten Betroffenen fühlen sich ziemlich alleingelassen mit ihrer Angst um’s Herz bzw. ihren Spannungszuständen und den erkennbaren Herzschäden. Es kann beängstigend sein, wenn im Freundes- oder Verwandtenkreis Menschen an einem Herzinfarkt sterben. Es kann jedoch auch Trost spenden und Halt geben, wenn man innerlich ein Vorbild hat, das auf gute Weise mit seiner Herzerkrankung umgegangen ist.
Wenn nahe Verwandte (z.B. Geschwister) an einem Herzinfarkt gestorben sind, kann die Herzangstneurose auch entstehen, weil sich der Überlebende unbewusst schuldig für sein Überleben fühlt.
Oft ist der Körper zuerst da: Schwer traumatisierte Menschen spüren oft schon früh, wie wenig Lebensenergie sie nach den frühen Kraftaufwendugnen haben. Sie spüren, wie kräftezehrend das Leben für sie ist und wie sie immer wieder in Spannung geraten. Sie können vielleicht schon sehr früh fühlen, dass ihr Herz belastet ist, noch bevor sich objektive Zeichen in den Herzuntersuchungen zeigen. Das frühe „Einfühlen in das Organ“ kann zu einer sogenannten Herzangstneurose führen, doch ist dies weniger als „psychisch bedingt“ zu betrachten, sondern vielleicht als eine schon sehr früh erlebbare körperliche Belastung. Hier kann es helfen, Yoga im Einzelunterricht zu erlernen und es ins tägliche Leben einzubauen.
Ärzte werden unglaubwürdig
Wer immer wieder Herzbeschwerden hat, der wird auch häufig untersucht. Die Ärzte veranlassen einerseits immer mehr Untersuchungen, andererseits erklären sie den Patienten für körperlich gesund, jedoch psychisch krank. Es ist ein Glück, wenn man auf einen Arzt trifft, der die Sorgen und früh gefühlten Beschwerden rundum ernst nimmt.
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Diagnosenummer nach ICD 10:
F45.3 Herzneurose (Somatoforme autonome Funktionsstörung)
Literatur:
Rooks, Cherie et al. (2015):
Long-Term Consequences of Early Trauma on Coronary Heart Disease:
Role of Familial Factors.
Journal of Traumatic Stress Volume 28, Issue 5
October 2015: Pages 456-459
https://doi.org/10.1002/jts.22044
https://onlinelibrary.wiley.com/doi/abs/10.1002/jts.22044
Anu Asnaani et al. (2009):
Panic Disorder, Panic Attacks and Panic Attack Symptoms across Race-Ethnic Groups:
Results of the Collaborative Psychiatric Epidemiology Studies
CNS Neuroscience & Therapeutics, First published: 7 August 2009
Volume 15, Issue 3, September 2009: Pages 249–254
DOI: 10.1111/j.1755-5949.2009.00092.x
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Hoffmann/Hochapfel:
Neurosenlehre, Psychotherapeutische und Psychosomatische Medizin
Schattauer Verlag 1995: 110-114
Horst Eberhard Richter, Dieter Beckmann:
Herzneurose
Psychosozial-Verlag, 2004
Raymond R. Crowe et al. (1980):
A Family Study of Anxiety Neurosis:
Morbidity Risk in Families of Patients With and Without Mitral Valve Prolapse.
Arch Gen Psychiatry. 1980; 37(1):77-79. doi:10.1001/archpsyc.1980.01780140079008.
archpsyc.jamanetwork.com/article.aspx?articleid=492254
J Margraf, A Ehlers and W T Roth (1988):
Mitral valve prolapse and panic disorder: a review of their relationship.
Psychosomatic Medicine March 1, 1988 vol. 50 no. 2 93-113
www.psychosomaticmedicine.org/content/50/2/93.short
Zvolensky, Michael J. et al. (2008):
Cardiophobia: A Critical Analysis
Transcultural Psychiatry, Vol 45, Issue 2, 2008
http://journals.sagepub.com/doi/abs/10.1177/1363461508089766
Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 26.2.2012
Aktualisiert am 15.8.2021
Jay meint
Interessant, wie ich mich durch Lesen dieses Blogs in so ziemlich jeder beschriebenen, neurotischen Störung wiederfinde, bzw. dass ich sehr oft identische oder zumindest ähnliche Erfahrungen gemacht habe:
Ich kann mich erinnern, wie ich früher, mitten in der Nacht mit dem Motorroller in die Notfallambulanz des örtlichen Krankenhauses gefahren bin, weil ich schon seit Stunden ein merkwürdiges Ziehen im linken Arm und Brust verspürte.
Die diensthabenden Ärzte nahmen mir genervt Blut ab und machten ein EKG,
nur um mir anschließend noch genervter zu erklären, dass ich nichts am Herzen hätte
und eventuell unter einer Muskelverspannung oder etwas ähnlichem leiden würde.
Da war es bereits 3:30 Uhr morgens.