
„Wissen Sie, Frau Doktor, es ist wegen dieser Krankheit“, sagt eine Patientin. Ich denke: „Oha! Leukämie, HIV, Brustkrebs?“, und frage: „Welche Krankheit meinen Sie?“ – „Na, die Depression!“, bekomme ich zur Antwort. Seit Anbeginn meiner Beschäftigung mit psychischen „Erkrankungen/Störungen“ habe ich Schwierigkeiten damit, die Depression als „Krankheit“ zu sehen, weil mir bei diesem Begriff die Nähe zur körperlichen Erankung zu groß ist.
Wir können krank sein, wenn wir eine Gallenkolik haben oder mit 40 Grad Fieber im Bett liegen. Natürlich kommt es auch bei Depressionen vor, dass die Betroffenen gar nicht oder nur mit größter Mühe ihr Bett verlassen können. Und doch finde ich den Begriff „Krankheit“ fehl am Platz, auch, wenn ich keine schlaue Alternative nennen kann.
Zuschauen, wie eine Depression entsteht
Es beginnt damit, dass ich an die Videos aus der Babyforschung denke, wo Mütter im Experiment aufgefordert werden, ihren Babys nicht zurückzulächeln („Still-Face-Experimente“). Es ist phänomenal, wie in wenigen Augenblicken die Babys einen depressiven Gesichtsausdruck bekommen. Leicht kann man sich vorstellen, wie depressiv die Babys werden, wenn die Mutter so sehr in Problemen steckt, dass sie dauerhaft in ihrer Mimik eingeschränkt ist. Sie kann nicht angemessen mit dem Baby kommunizieren.
Wenn Sie ein Kind zu sich aufnehmen und es eine Woche lang nur beschämen und seelisch verletzen, dann haben Sie ganz schnell ein depressives Kind.
Eine Depression ist die logische Konsequenz auf das Erlebte.
In den großen literarischen Stücken werden immer wieder Depressionen beschrieben: lange Phasen der Hoffnungslosigkeit, der Resignation, der Erschöpfung und Kraftlosigkeit können das Leben eines Menschen bestimmen. Wer wirklich Mensch ist, wer fühlt und sich nicht dem Leben verschließt, durchlebt immer wieder auch depressive Phasen, die mitunter sehr lange dauern und von tiefer Einsamkeit geprägt sind.
Und was ist mit dem Stoffwechsel?
Viele Psychiater werden nicht müde, ihren Patienten zu erklären, dass bei einer Depression der Hirnstoffwechsel verändert sei und sie daher besser Medikamente für den Hirnstoffwechsel nehmen sollten. So sehr viele Patienten von den Medikamenten profitieren, so sehr bekommen jedoch auch viele das Gefühl, dass sie der Depression einfach ausgeliefert sind. Psychiater, die sich sehr engagieren und auch wirkungsvoll arbeiten, tun dies oft aus einer inneren Intuition heraus – systematisch gelernt haben sie es in ihrer Ausbildung meistens nicht.
Im Gegensatz zu einer körperlichen Erkrankung, die oft „starr“ ist und die eigene Gesetze hat wie z.B. unaufhaltsamen Zerfall bei einem malignen Tumor, so bleibt die Depression meiner Erfahrung nach beeinflussbar – und zwar durch Beziehung.
Erleichterung von jetzt auf gleich möglich
Auch ich weiß, wie es ist, depressiv zu sein. Ich kann mich jedoch auf hilfreiche Erfahrungen beziehen: Ich habe die Erfahrung gemacht, wie rasch sich die Depression lichten kann. Durch eine Deutung, eine Erlaubnis, einen Pespektivwechsel oder durch das Verstandenwerden in der Psychoanalyse kann die Lebensenergie sozusagen von jetzt auf gleich zurückkommen. Es muss oft eben „nur“ ein anderer Mensch da sein, der diese Erfahrung möglich macht. Fehlt dieser bedeutsame andere, steckt man oft wirklich fest.
Die Psychoanalyse macht mir immer wieder deutlich, wie sehr sich eine Depression „körperlich“ und „unbeeinflussbar“ anfühlen kann, doch wie relativ rasch sie einem neuen Lebensgefühl weichen kann, wenn es eine nahe Beziehung gibt, in der man wirklich verstanden wird.
Mangelnde Ausbildung und starre Bilder
Natürlich kann es auch lange Phasen der Depression geben, in der sich nichts zu verändern scheint. Leider werden in unserem Gesundheitssystem die Psychiater nicht gut ausgebildet, was das Verstehen der Psyche anbelangt. Der Schwerpunkt liegt meistens auf der medikamentösen Therapie.
Rasch entsteht aufgrund der relativ oberflächlichen psychologischen Ausbildung das Gefühl der Hilflosigkeit, wenn ein Patient sich suizidal zeigt oder sehr leidet. Der Psychiater hat kaum Zeit, eine tiefere Beziehung zu seinem Patienten einzugehen, sodass weder Patient noch Psychiater die Erfahrung machen können, was durch eine tiefere Beziehung wirklich möglich wäre. Es ist wichtig, dass der Therapeut auch an sich selbst als wirksames Medium glauben kann.
Aus meiner Sicht ist eine Depression die logische Folge auf katastrophale, traumatische, vernachlässigende Beziehungserfahrungen. Das Gegenmittel liegt jedoch darin, dem Betroffenen mithilfe von emotionaler Beziehung neue Erfahrungen zu ermöglichen.
Der schwer Leidende
Interessanterweise sträube ich mich zwar gegen den Begriff „Krankheit“, nenne aber die von Depression Betroffenen doch „Patienten“, weil ich eben das schwere Leiden sehe und weiß, wieviel Geduld (lateinisch: Patientia) die Betroffenen brauchen. Ich würde den schwer Leidenden, der mich zu einer Therapie aufsucht, nicht „Klient“ nennen, weil es ihm einfach zu schlecht geht. Er ist eben kein „Kunde“ an der Aldi-Kasse, sondern er ist geschwächt und sucht Hilfe.
Ich sehe jedoch auch: Für viele Patienten ist es enorm hilfreich, ihre Depression als „Krankheit“ anzuerkennen. Es entlastet sie, es nimmt Schuldgefühle und macht es möglich, mit diesem Zustand sozusagen zu „arbeiten“. Der Begriff „Krankheit“ liefert ihnen einen Halt und eine Erklärung für das vorher nicht Erklärbare.
Natürlich sehe ich auch, dass eine schwere Depression, die vielleicht immer von schwerster Einsamkeit begleitet ist, schließlich zum Suizid führen kann. „Wenn das keine Krankheit ist?!“, höre ich dann manchmal. Und dennoch: Es ist aus meiner Sicht ein schweres Schicksal, ein Lebensverlauf nach schweren Traumata, ein Drama, eine Tragödie, ein Versagen von Gesellschaft und Therapien, eine hilflose Situation, eine Hoffnungslosigkeit. Es ist etwas, das mich seelisch zutiefst berührt. Ich möchte es lieber namenlos lassen, als es „Krankheit“ nennen.
Erst nach Veröffentlichung dieses Beitrags machte mich ein Twitter-Leser aufmerksam, dass der Schweizer Psychotherapeut Dr. Josef Giger-Bütler ein Buch mit demselben Titel geschrieben hat. Sein Buch „Depression ist keine Krankheit“ ist 2016 im Beltz-Verlag erschienen.
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Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 14.6.2020
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