
Da war dieser Patient – er blickte mich lange an, doch ich wich aus. Irgendwann begriff ich: Er braucht meinen versichernden Blick. Seine Augen suchten meine Augen und als ich mich darauf einließ, veränderte sich alles. Er ging einen Schritt im Leben, den er zuvor nicht gehen konnte. Da sehe ich die Landschaft und es ist eine Augenweide. Da war dieser Maler, vor dessen Selbstporträt ich wie angewurzelt stehen blieb. Seine Augen trafen mich zutiefst. Es war, als blickte ich in eine endlose Tiefe, die dennoch Halt gab. Es war dunkel und dennoch überstrahlte der Hoffnungsschimmer alles. Sein Blick ging direkt in meinen Magen und verweilte dort. Ich merkte, dass sein Blick mich aufgeschlossen hatte wie ein Schlüssel sein Schloss. Oder traf sein Blick mich, weil ich schon offen war?
Menschen mit Psychosen malen häufig Augen (Beispiel auf Facebook: „Schizophrenie-Zeichnung“ während der Psychose). Sie fühlen sich verfolgt von ihnen oder sie versuchen, im alkoholverwässterten Blick von Vater oder Mutter noch irgendwie Halt zu finden. Sie haben als Kinder vielleicht in die toten Augen der depressiven Mutter geschaut oder sie sahen in die hasserfüllten Augen des gewalttätigen Elternteils. Die Augen der Eltern konnten sie nicht richtig spiegeln – die Betroffenen konnten nicht „am Du zum Ich“ werden und keine ausreichende Trennung von der Mutter erfahren.
Das Auge isst mit
Da war diese Torte, wo die Augen größer waren als der Magen. Oder der Taucher, dessen Taucherbrille so einen großen Druck auf seine Augen ausübte, dass er an einem Auge-Herz-Reflex starb.
Wenn Blicke töten könnten …
In New York war da dieser Passant, der sich sofort übergeben musste, als er sah, wie das Flugzeug in den Tower stürzte. Da war König Ödipus, der sich die Augen aussticht, als er erkennt, dass er seine eigene Mutter zur Frau genommen hatte. Den Anblick der Wahrheit konnte er nicht ertragen.
Das Auge ist direkt mit dem Magen verbunden. Lebererkrankungen trüben das Auge gelb und eine Schilddrüsenüberfunktion lässt es mitunter hervortreten.
Das Auge isst mit, aber es ekelt sich auch. Da ist die „Geschlossene Gesellschaft“ von Jean-Paul Sartre, in der das Schließen der Augen nicht mehr möglich ist (Martin Thiele: Die Macht des Blicks). Da ist die Hypnose, die über die Augen geht und der Bann, der uns erstarren lässt. Wir werden zur Salzsäule, wenn wir etwas Schockierendes sehen. Oder aber wir spüren den Blick des anderen in unserem Nacken. Und wenn wir gemalte Bilder von Psychotikern betrachten, dann sehen wir darauf oft viele Augen, häufig auch leere Augen.
Babys sind darauf angewiesen, dass wir sie anschauen, aber auch darauf, dass wir sie in Ruhe lassen, wenn sie den Kopf von uns wegdrehen. Wenn Mutter, Vater oder Verwandte dies nicht verstehen und ihr Baby weiterhin mit ihren Augen verfolgen, leidet der Betroffene später vielleicht unter dem quälenden Gefühl, dass da überall Augen sind, die ihn verfolgen.
Die Netzhaut des Auges und die Eintrittsstelle des Sehnerven im Auge geben dem Augenarzt einen direkten Blick auf einen Teil des Gehirns. Und wenn das Kind nicht genügend „Glanz im Auge der Mutter“ findet, wird es ihm schlecht ergehen (Katharina Freudenthal: Der Glanz im Auge der Mutter PDF. Und: Kohut: Analysis of the Self/Narzissmus 1973, amazon).
Einen Augenblick noch …
Wo es keine Berührung gibt, sind Blicke besonders wichtig.
Manchmal sehen gerade die Blinden besonders viel – wie z.B. der blinde Seher Teiresias in der Ödipus-Sage (Michael Kleu: Teiresias‘ Geschlechtswechsel und die Tücken der Wahrheit, fantastischeantike.de). In der Psychoanalyse liegt der Patient auf der Couch, damit die Blicke nicht mehr ablenken können. Und schließlich sagt der Fuchs in der Geschichte des Kleinen Prinzen: „Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.“ (Der Freitag, 6.4.2013).
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