
Unsere Psyche entwickelt sich insbesondere in der Baby- und Kleinkindzeit. Dort werden die Grundlagen von psychischer Gesundheit und Krankheit gelegt. Die Mutter überführt unreife psychische Elemente (Beta-Elemente) in reife Elemente (Alpha-Elemente). An ihrer Mimik, Stimme und ihrer Art, das Baby zu halten, lernt das Baby sich selbst kennen. Es lernt, wie seine Bedürfnisse befriedigt werden oder unbefriedigt bleiben.
Das Baby lernt, was Abwesenheit und Anwesenheit eines anderen Menschen bedeutet, es lernt Realtiät von Phantasie zu unterscheiden und mit der Mutter emotional und mit Worten zu kommunizieren. Psychische Gesundheit heißt, gut mit anderen und sich selbst kommunizieren zu können, psychische Bewegungen einordnen und gute wie schlechte Gefühle halten zu können.
Die Grundlagen schafft die erste enge Liebesbeziehung, meistens die zur Mutter oder zu der Person, die sich der Kinderbetreuung von Beginn an annimmt. Als Korrektiv oder auch „Retter von Außen“ kommen dann der Vater und weitere Menschen hinzu, die die „gefährliche Zweierschaft“ aufbrechen.
Schwerer Beginn
Menschen, die schwere psychische Störungen wie z.B. Psychosen und komplexe posttraumatische Belastungsstörungen entwickeln, berichten fast immer von sehr schweren Störungen in diesen frühen Beziehungen. Auch, wenn sie es oft nicht direkt beschreiben können, so lässt doch die Atmosphäre, die im Zusammensein mit ihnen entsteht, erahnen, wie die Betroffenen aufgewachsen sind.
Unsere Seele wird also mithilfe eines anderen Menschen – meistens der Mutter – geboren, wobei nicht nur die Qualität der Beziehung, sondern auch die Quantität seine Rolle spielt.
Eine Frage der Verzweiflung und der Persönlichkeit
Wer später sehr schwer psychisch leidet und mehr will, als nur mithilfe von Medikamenten ein gerade eben „funktionierendes“ Leben zu führen, der benötigt eine enge, bedeutungsvolle Beziehung, die häufig und über eine lange Zeit stattfindet.
Es bedarf eines einzigen Menschen, der sich des Betroffenen jahrelang annimmt und intensive psychische Arbeit leistet, wie es eine Mutter beim Baby tut.
In dieser engen Zweierbeziehung lernt der Patient sich selbst kennen, er lernt zu kommunizieren, er erlernt Vertrauen und Impulskontrolle, er erkennt seine aggressiven Seiten und empfindet sich zunehmend als selbstwirksam.
Für solche Menschen also, die schwer leiden und die verzweifelt einen Ausweg suchen, bietet die Psychoanalyse eine ganz besondere Chance. Der Psychoanalytiker, der relativ nah hinter der Couch sitzt, ist psychisch und physisch präsent. Hier finden psychische Austausch- und Verdauungsvorgänge statt, die sich wohl erleben, aber nur sehr schwer beschreiben lassen.
Der Patient, der eine Psychoanalyse macht, geht das Risiko der emotionalen Abhängigkeit ein. Sie führt schließlich zu einer Entwicklung, die Freiheit ermöglicht.
Nur wenigen kann geholfen werden
Der Psychoanalytiker Bertram Karon, der sein Leben den Psychotikern gewidmet hat, schreibt in seinem Buch „Psychotherapy of Schizophrenia“, dass es ein Drama sei, dass diejenigen, die sich um die Kränkesten kümmern – also die Psychiater – die in dieser Hinsicht schwächste Ausbildung haben. Die Patienten mit den schwersten Störungen wiederum fänden nur selten den Weg zu den Psychotherapeuten mit der intensivsten Ausbildung – also den Psychoanalytikern.
Der Film „Take these broken wings“ von Daniel Mackler (siehe unten) zeigt, wie die Psychoanalyse bei Schizophrenie helfen kann und welch ungeheurer Aufwand dahinter steckt. Es kann nur wenigen Menschen in dieser Weise geholfen werden – nur wenige Patienten finden den Weg in die Analyse und nur wenige Psychotherapeuten lassen sich zum Analytiker ausbilden.
Doch dank der Säuglingsforschung, der Bindungsforschung und den Entwicklungen in der (Psychotherapie-)Welt wird vielen immer bewusster, wie sehr der Mensch selbst wirkt.
Youtube-Filme zum Thema „Consciousness“ (Bewusstsein), Achtsamkeit und ähnlichen Themen boomen. Die Bedeutung von Beziehung und sinnvollen emotionalen Kontakten wird immer mehr Menschen bewusst, sodass auch die Psychoanalyse wieder mehr Aufmerksamkeit findet – gerade bei Psychologiestudenten und Psychotherapeuten in Ausbildung besteht oft großes Interesse. Ich bin gespannt, wohin die Entwicklung geht.
Melande meint
Mir ist bewußt geworden, dass meine jeweilige aktuelle psychische Verfassung/Stimmung auch meine Beurteilungen in die eine oder andere Richtung beeinflussen. Was ich vorstehend gestern geschrieben habe, sehe ich heute (wo die Sonne scheint, ich besser gechlafen habe und etwas Schönes vorhabe) nicht mehr (nur) so negativ. Ich müßte den Kommentar relativieren, bzw. durch positive Hilfs- und „Heil“-möglichkeiten ergänzen (die z.B. außerhalb einer Standard-Psychoanalyse liegen).
Melande
Melande meint
Als Frau von 67 Jahren, die in ihrer Jugend (mit 19 und 25 Jahren) zwei psychotische Episoden erlitten hat, möchte ich obigem Beitrag voll zutimmen und zutiefst bedauern, dass es in unserem Land so enorm wenig psychoanalytisch ausgebildete Psychotherapeuten gibt.
Die Notwendigkeit der Verfügbarkeit, Erreichbarkeit und Finanzierung der langfristigen Therapie steht in krassem Gegensatz zur Realität: große LEERE, wo immer man auch sucht…….
Melande