
Wohl die meisten Menschen haben schon einmal die Erfahrung gemacht, dass der andere gerade das ausspricht, was wir im Sinn hatten oder dass der andere uns gerade anruft in dem Moment, in dem wir an ihn dachten. Manchmal fürchten wir uns vielleicht auch davor, dass andere uns mit ihren bösen Wünschen über die Ferne hinweg schaden könnten.
Manchmal möchten wir jemandem von unseren – vielleicht sogar beängstigenden – telepathischen Erfahrungen berichten, aber er selbst kann damit nichts anfangen. Das mag daran liegen, dass „Telepathie“ impliziert, dass wir glauben zu wissen, dass der andere gerade „genau das“ denkt und fühlt, was wir gerade denken und fühlen und dass es dem anderen gerade ganz genau so geht wir uns selbst. Doch Menschen sind immer unterschiedlich. Wir können uns einander sehr annähern, aber wir können uns nie sicher sein, dass der andere „dasselbe“ denkt, fühlt und meint wie wir.
Das „Telepathische“ ist nah an der Psychose: Auch in der Psychose glaubt der Betroffene, der andere könne seine Gedanken lesen oder er wisse sicher, was der andere denkt. Das Problem dabei ist, dass der Psychotiker sich nicht innerlich vom anderen trennen kann und dem anderen etwas überstülpt. Er sieht den anderen nicht mehr in seiner Eigenständigkeit.
Die Ursache liegt oft darin, dass der Psychotiker selbst oft gerade eine besonders uneinfühlsame Mutter hatte. So war er mit sich allein und phantasierte sich eine Nähe zur Mutter, die ohne Grenzen war. Der Psychotiker ist überzeugt davon, richtig zu liegen – aber das ist er, weil es ihm an echtem Austausch mangelt. Er ist mit sich in seiner Welt allein. Und das ist wirklich bedrohlich: Es gab kein verstehendes Elternteil.
Es ist dann ein bisschen wie in Goethes Gedicht vom Erlkönig (deutschelyrik.de): „Siehst Vater, du den Erlkönig nicht? Den Erlenkönig mit Kron‘ und Schweif? – Mein Sohn, es ist ein Nebelstreif.“ Der Vater erkennt nichts, doch der Sohn stirbt daran.
Ich hörte einmal von einer Interpretation, nach der es hieß: Der Sohn starb daran, dass der Vater ihn nicht verstand.
Kinder, die von ihren Eltern nicht verstanden werden, sind ängstlicher, leichter beeinflussbar und manipulierbar als Kinder, die von ihren Eltern gut verstanden wurden und dadurch ein gutes Selbstgefühl entwickeln konnten.
Wirkliches Verstandenwerden ist ein Schutz vor dem Gefühl, „unsichtbaren Mächten“ ausgeliefert zu sein
Wenn ein gesundes Kind von seiner Mutter wirklich verstanden wird, dann hat es in dem Moment nicht das Gefühl, dass dies Telepathie gewesen sei. Ich denke, dass das Gefühl von Telepathie eher dann entsteht, wenn das Kind erlebt: Die Mutter versteht mich nicht. Dann wird die Not sehr groß. Es entsteht ein Gefühl von „Un-heimlichkeit“.
Projektionen verwirren
Das Kind wünscht sich sehr, dass es vielleicht doch noch eine Ebene geben könnte, auf der die Mutter es versteht. Doch wenn die Mutter unempathisch ist, dann stülpt sie ihrem Kind ihre eigenen Wünsche, Gedanken und Gefühle oft über. Sie projiziert ihre Dinge in das Kind und sieht in dem Kind genau das, was eigentlich in ihr ist. Zum Beispiel sagt sie zum Kind: „Schau nicht so böse“ und spürt gar nicht, dass sie selbst gerade böse ist.
Dadurch wird das Kind von der Mutter vereinnahmt und überwältigt. Ist die Mutter dann weg – z.B. verstorben oder örtlich weit weg – dann bekommt das Kind vielleicht das Gefühl, die Mutter hätte seine Seele mitgenommen. Es kann jedoch aufgrund der Vorerfahrungen das Gefühl aufkommen, die Mutter sei in ihm und würde sich weiterhin seiner bemächtigen. Es hat dann möglicherweise das gruselige Gefühl, die Mutter würde es durch ihre Gedanken lenken.
Wirkliches Verstandenwerden macht keine Angst. Doch wenn Kinder nie verstanden und vielleicht psychotisch werden, dann können sie manchmal schon das Gefühl von Telepathie haben, wenn sie auf einmal von einer nahestehenden Person tatsächlich verstanden werden.
„Woher weißt Du das?“, fragt das ängstliche Kind manchmal. Kaum etwas ist wichtiger, als einem Kind zu dem Gefühl einer eigenen Grenze zu verhelfen und zu versuchen, es zu verstehen. Wenn es dann einmal missverstanden wird, spürt es in seiner Verzweiflung seine Grenze zum anderen.
Doch was hält gesund? Es ist das gesunde Wechselspiel aus Nicht-Verstandenwerden, Verstandenwerden und dem Gefühl, dass da jemand ist, der sich bemüht, mich zu verstehen, ohne den Anspruch zu haben, zu „wissen“, was in mir vorgeht. Ob wir an Telepathie „glauben“ oder nicht, ob wir sie häufig erleben oder nicht, ob sie uns Angst macht oder nicht, hängt also auch von unseren früheren Bindungen und unserer Bildung ab.
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Dieser Beitrag wurde erstmals veröeffentlicht am 7.12.2019
Aktualisiert am 25.12.2020
OR meint
Heftig ich will da raus