
„Ich wache nachts immer wieder mit unerklärlichen Panikattacken auf.“ Wir wissen, dass Gerüche, einzelne Laute oder Worte, Bilder und Geräusche an Traumata erinnern können und dann im Betroffenen starke Angst auslösen. Diese Einflüsse werden „Trigger“ genannt. Was weniger beachtet wird: Auch Reaktionen im eigenen Körper, Körperhaltungen und bestimmte Bewegungen können als „Trigger“ wirken. (Text & Bild: © Dunja Voos)
Frühe Erinnerungen schwinden
Oft können Eltern erstaunt beobachten, wie sich ihr eineinhalb- bis dreijähriges Kind anscheinend gut an Dinge, Wege und Menschen erinnern kann. Doch dann kommt eine Phase, in der die Erinnerungen schwinden – es kommt zur kindlichen Amnesie. Forscher vermuten, dass dies mit der Ausreifung des Hippocampus zu tun hat, in dem die Erinnerungen gespeichert werden. Obwohl wir Erinnerungen im Kleinkindalter hatten, können wir uns später bewusst erst an Begebenheiten erinnern, die wir ab einem Alter von drei oder vier Jahren erlebten. Bewusste Erinnerungen hängen auch mit der Sprachentwicklung und somit mit der Entwicklung zum bewussten Denken zusammen.
Auch unbewusste Erinnerungen beeinflussen uns
Unsere Kindheitserinnerungen sind uns wichtig. Viele nähren sich von schönen Kindheitserinnerungen, andere denken fast nur mit Schrecken an ihre Kindheit zurück. Kindheitserinnerungen bestimmen oft zu einem großen Teil unser Lebensgefühl. Doch wenn die Kinderzeit schon so wichtig war, wie wichtig muss dann die Babyzeit gewesen sein?
An unsere Babyzeit haben wir keine bewussten Erinnerungen. Wir konnten noch nicht sprechen und uns teilweise auch nicht als getrennt von der Mutter erleben. Doch was unsere bewussten Erinnerungen nicht wiederzugeben vermögen, das können manchmal unsere „unbewussten Erinnerungen“ zeigen. Wir stellen z.B. in unserer Umwelt Situationen her, die der frühen Situation ähnelten.
Körper vor Sprache
Der Körper spielt in den ersten Lebensmonaten und -jahren eine immens wichtige Rolle, gerade, weil uns noch die Worte und die Möglichkeit zum Nachdenken fehlen. Der psychische Raum ist noch sehr klein. Körpererfahrungen können einen Säugling schier überwältigen, wie man am Schreien bei Hunger sieht.
Die Körpererfahrungen, die wir als Baby machten, sind in unserem Körper gespeichert. Wir bevorzugen z.B. bestimmte Geschmacksrichtungen, weil die Ernährung der Mutter in der Schwangerschaft und Stillzeit einen Einfluss auf uns hatte.
Wenn wir unter Druck geraten
Wenn wir psychisch unter Druck geraten, dann fühlt es sich auch körperlich so an, als übte jemand Druck auf uns aus: Die Muskeln werden angespannt und üben Druck auf uns aus. Dieser Zustand der Anspannung erinnert möglicherweise an sehr frühkindliche Zustände der Anspannung, an frühe Gewalt und Vernachlässigung.
Vielleicht könnte dies die unterschiedlichen Reaktionsweisen auf Druck bei Menschen erklären: Je schlimmer unsere Körpererfahrungen als Baby waren, desto dramatischer erscheinen uns die Erfahrungen als Erwachsener. Vielleicht leidet man an Durchfall, psychosomatischem Erbrechen oder massiven körperbezogenen Ängsten.
Unter dem Stichwort „Embodiment“ lassen sich psychologische Artikel und Studien finden, die sich mit den Zusammenhängen von Körpererfahrung und Erinnerung befassen.
Körperhaltungen
Wenn Babys Gewalt erfahren, wäre es logisch, dass auch die Körperhaltung eine Rolle spielte, die sie während der Gewalterfahrung eingenommen hatten. Wird diese Körperhaltung im Erwachsenenalter wieder eingenommen, kann dies vielleicht zu Panikattacken, Atemnot, Erbrechen oder Durchfall führen. Auf diese Idee kam ich seit meiner Arbeit an meinem kritischen Buch zur Vojta-Therapie bei Babys.
Diese Therapie etablierte sich in den 1960er Jahren. Seither gibt es also Kinder, die alle paar Stunden gezielte Gewalt erfuhren. In Gesprächen mit Betroffenen lassen sich immer wieder Zusammenhänge herstellen zwischen unerträglichen psychischen Zuständen, Körperhaltungen und körperlichen Eindrücken. Es ist gut vorstellbar, dass allein die Körperhaltung ähnliche Ängste auslösen könnte wie damals, als das Baby im Griff der Mutter/des Vaters/des Therapeuten war.
Bei der Vojta-Therapie vertieft sich die Atmung und es werden Kreislauf und Verdauung aktiviert. Manche Babys erbrechen dabei. Diese spezielle Form der – wie ich finde – „Gewaltanwendung“ bei Kindern gibt es erst seit den 60er Jahren. Vielleicht kann aus dem Schrecklichen noch etwas Gutes gewonnen werden, indem man neue Zusammenhänge zwischen körperlicher Gewalt beim Baby und Seelenleben des Erwachsenen entdeckt.
Alle möglichen Reize können zur Angst führen
Dieser Erinnerungsmechanismus trifft auch auf andere Reize zu: bestimmte Jahreszeiten, Wochentage, Uhrzeiten, Außentemperaturen, Raumdüfte, weiche oder harte Liege-Unterlagen und Tageslicht sind vielleicht manchmal mit eine wichtige Mit-Ursache dafür, dass unerklärliche Panikattacken oder Körperreaktionen bei den Betroffenen auftreten. Hier kann man durch sensible Beobachtung einiges herausfinden.
Und was kann man tun? Wie bei allen schwerwiegenden psychischen Problemen kann man alleine meistens nur wenig tun. Manchmal hilft aus meiner Sicht nur eine Psychoanalyse. Wichtig ist das Wissen um diese Zusammenhänge, damit sie einem überhaupt erst einmal auffallen. Außerdem kann man beständig versuchen, neugierig auf sich selbst zu sein, unangenehme Gefühle auszuhalten und vielleicht selbst auch Zusammenhänge herzustellen.
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Dunja Voos:
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Dunja Voos:
Vojta-Therapie bei Babys – ein Aufschrei
Hilfe bei einem speziellen Trauma
Selbstveröffentlichung, 9.2.2021
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Linktipps:
Jude Cassidy and ohnathan J. Mohr (2001):
Unsolvable Fear, Trauma, and Psychopathology
Theory, Research, and Clinical Considerations Related to Disorganized Attachment Across the Life Span
Clinical Psychology, volume 8, Issue 3, September 2001: Pates 275-298
First published: September 2001Full publication history
DOI: 10.1093/clipsy.8.3.275
http://onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1093/clipsy.8.3.275/full
Dieser Beitrag erschien erstmals am 23.9.2017
Aktualisiert am 21.2.2020
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