
Wenn wir so „in uns hineinhorchen“, merken wir, dass wir so etwas wie einen „psychischen Raum“ haben, in dem wir denken können, in dem wir uns Dinge vorstellen können, in dem wir spielen können. Manchmal klappt dieser psychische Raum zusammen, z.B. wenn wir in Panik geraten – dann können wir nicht mehr viel überlegen. Manchmal geht dieser Raum auch verloren, wenn wir eng mit jemandem zusammen sind, den wir vielleicht fürchten – oder aber auch lieben.
Der psychische Raum entwickelt sich bereits in der frühen Kindheit im Zusammensein mit Mutter, Vater und Geschwistern. Hier kann einiges schiefgehen.
Zu viel Enge, zu wenig Eigenes, zu wenig „Drittes“
In gesunden Beziehungen ist es so: Ich erlebe mich, ich erlebe den anderen und ich kann mir ausmalen, wie wir die Beziehung gestalten müssen, dass sowohl ich als auch der andere sich wohl fühlen. Und wenn es zu eng wird, dann gibt es die befreiende Vorstellung, dass irgendwo da draußen ja noch andere Menschen sind. Im ersten Schritt entwickelt sich so etwas wie eine „Psychische Haut“ (Psychic Skin, Begriff geprägt von der Psychoanalytikerin Esther Bick [1902-1983]), unter der ein psychischer Raum entstehen kann.
Wenn es dem Kind in ungünstigen Beziehungen nicht gelingen kann, diesen eigenen inneren Raum herzustellen, kann es sein, dass es zu der (unbewussten) Vorstellung kommt, es sei über die Haut mit der Mutter auf’s Engste verbunden. Es fühlt sich, als würde es in einem Känguruh-Beutel stecken oder als wäre es wie in einem Briefumschlag mit der Mutter eingeschlossen. Die Mutter stülpt sich sozusagen über das Kind. Die Mutter ist dann wie eine „zweite Haut“ (Second Skin) für das Kind.
„Die Überlegung, dass die Wahrnehmung eines inneren Raumes erst entwickelt werden muss, impliziert die Möglichkeit, dass dieser Prozess scheitert und daraufhin kompensatorische Maßnahmen, die primitivsten aller Abwehrformen, entwickelt werden, die (Esther) Bick (1968) als ‚Zweithautphänomene‘ (Second-Skin Phenomena) bezeichnet hat.“
Robert D. Hinshelwood: Wörterbuch der kleinianischen Psychoanalyse. Klett-Cotta, Stuttgart 1993, S. 336
Vom Schutzschild zur Gefahr
Die gesunde Mutter ist wie ein Schutzschild für das Kind: Sie filtert Emotionen und schützt das Kind vor Überflutungen. Die Mutter reguliert die Grenze zwischen sich und dem Kind, wodurch das Kind seine eigenen Grenzen kennenlernt.
Doch das Schutzschild kann z.B. löcherig sein, wodurch es zu Schwierigkeiten in der Unterscheidung Du/Ich, Bewusst/Unbewusst, Seele/Körper und Innen/Außen kommen kann. Oder das Schutzschild kann das Kind so sehr umschließen, dass es mit der Mutter eingesperrt ist.
Die Empfindung, mit dem anderen in einer zweiten Haut zu stecken, ist den schwer psychisch leidenden Menschen meistens nicht bewusst. Es kann meistens nicht in Worte gefasst werden – oft besteht jedoch eine ausgeprägte Platzangst (Klaustrophobie) in allen möglichen Lebenslagen. Häufig erst in einer Psychoanalyse können solche Phänomene sichtbar, spürbar und erlebbar werden.
Anmerkung: Der Begriff „Zweite Haut“ wird allerdings auch im Positiven verwendet, z.B. wenn ein Patient in der guten Beziehung zum Analytiker so etwas wie eine Schutzhülle empfindet. Manche Patienten sagen dann: „Ich fühle mich, als hätte ich einen Schutzmantel an oder als legte sich eine zweite Haut über mich.“
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Link:
Denis Mellier
The psychic envelopes in psychoanalytic theories of infancy
Front Psychol. 2014; 5: 734
Published online 2014 Jul 15. doi: 10.3389/fpsyg.2014.00734
www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC4097205/
Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 6.8.2017
Aktualisiert am 1.8.2020
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