
Der Psychoanalytiker solle nichts sein als die Projektionsfläche des Patienten, hieß es früher in der Psychoanalyse. Immer wieder berichten Patienten davon, dass sie ihre Analyse abgebrochen oder schlechte Erfahrungen gemacht haben, weil der Analytiker zu viel schwieg. Ich frage mich dann meistens, was da passiert ist und wie genau das zu verstehen ist. Das Schweigen des Analytikers ist meistens ein „präsentes Schweigen“. Das heißt, der Psychoanalytiker ist „voll da“, doch der Patient erlebt mitunter pure Verlassenheit. Hier ist der Psychoanalytiker gefragt, einfühlsam damit umzugehen und aus der für den Patienten desolaten Situation etwas Verstehbares erwachsen zu lassen.
Manche fühlen sich durch das Schweigen entsetzlich gequält. Hier liegt es am Psychoanalytiker, diese Gefühle aufzunehmen und es dem Verstehen zuzuführen. Das lernt der Psychoanalytiker in seiner Ausbildung – vor allem in der eigenen Lehranalyse. (Text & Bild: © Dunja Voos)
Schweigeverhalten
Wie sehr ein Analytiker schweigt, hängt von vielen Faktoren ab: von seiner Ausbildung, seiner Ausrichtung, seiner Persönlichkeit, seinen eigenen Erfahrungen, seinen Absichten und Vorstellungen. Er dosiert das Schweigen so, dass es dem Patienten angemessen ist.
Und was braucht der Patient? Ist er heute sehr ängstlich und geht es ihm schlecht, spricht der Analytiker unter Umständen mehr. Es gibt jedoch auch viele Situationen, in denen es dem Patienten sehr schlecht geht und er gerade dann das Schweigen braucht.
Im Schweigen bekommt das Unbewusste Raum und alte Schmerzen tauchen wieder auf. So können sie bearbeitet werden. Oft kann man als Analysand spüren, wie der Analytiker im Schweigen sozusagen psychische Verdauungsarbeit leistet. Je erfahrener ein Analytiker ist, desto intuitiver und angemessener kann er das Schweigen nutzen und dosieren.
Die Patienten merken oft, dass ihnen dieses Schweigen gut tut. Tut es ihnen nicht gut, können einige es zur Sprache bringen, andere (noch) nicht. Hier sind die Patienten darauf angewiesen, dass der Analytiker sich interessiert zeigt und dazu anregt, Worte für das eigene Befinden zu finden.
Das Schweigen wird immer wieder zum Thema. Es kann Verlassenheitsängste, Wut und Verzweiflung hervorrufen, aber auch Gefühle der Geborgenheit und des Berührtseins.
Allein lassen
Im Schweigen sammelt der Psychoanalytiker sozusagen Material und lässt sich selbst Raum, eigene Phantasien zu entwickeln.
Natürlich ist den Analytikern bewusst, dass die Psychoanalyse für die Menschen, die einen Analytiker erstmals aufsuchen, Neuland ist. Das heißt, viele Analytiker achten gerade am Anfang darauf, die Patienten mit ihrem Schweigen nicht zu „erschlagen“. Zu viel Schweigen verschreckt viele Patienten.
Herantasten
Viele Menschen, die eine Psychoanalyse beginnen, litten unter abwesenden oder nicht-reagierenden Eltern. Schweigt der Analytiker, können alte Gefühle neu geweckt werden. So eine Situation bietet die Grundlage, um die alten Traumata sozusagen im Hier und Jetzt zu erfassen und zu bearbeiten.
Sich auf die Couch zu legen und den Analytiker nicht mehr zu sehen, ist für viele eine kaum vorstellbare Situation. In der Regel beginnt man dann bei diesen Patienten mit einer Therapie im Sitzen und arbeitet daran, Vertrauen aufzubauen. Diese Phase kann sehr lange dauern.
Erst sitzen, dann liegen
Wenn man zunächst zu zweit im Raum sitzt, fällt der Blick des Patienten öfter auf die Couch. Wenn Analytiker und Patient dann eine Weile zusammengearbeitet haben (Wochen, Monate oder auch manchmal Jahre), wagt sich der Patient auf die Couch.
Meistens ist es so, dass die Patienten im Laufe der Therapie im Sitzen immer häufiger auf die Couch schauen. Mit dem Vertrauen wächst auch oft der Wunsch, sich fallen zu lassen und das nachzuholen, was man nie erlebt hat: sich einem anderen Menschen auszuliefern und dabei in Sicherheit zu sein. Irgendwann werden Wunsch und Neugier größer als die Angst.
In Ruhe gelassen
Die analytischer Arbeit kann dem Patienten und dem Analytiker viel Freude bereiten, weil man spürt, wie man endlich Klarheit gewinnt, auch, wenn die Analyse natürlich oft mit Leid verbunden ist.
Schweigen bedeutet Stille. Und Stille bedeutet oft Einsamkeit. Als Patient kann man sich auf der Couch sehr einsam fühlen – doch auch der Analytiker hinter der Couch ist oft einsam. Manchmal merkt man als Patient auf der Couch erst nach langer Zeit, dass der Analytiker im Schweigen das eigene Leid psychisch irgendwie „mit-verdaut“.
Der Analytiker ist ein nachträglicher Zeuge, der einem dabei hilft, Wege aus den engen inneren Räumen zu finden. Das Schweigen empfinden viele Patienten mit der Zeit als Wohltat, weil es da endlich jemanden gibt, der nicht gleich reagieren oder gleich etwas totreden muss. Was man herausfindet, findet man in guter Begleitung selbst heraus. Somit bietet das Schweigen dem Patienten auch die Chance, die Dinge selbst herauszufinden und das Gefühl zu entwickeln, vieles „alleine“ geschafft zu haben.
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Dieser Beitrag erschien erstmals am 3.1.2016
Aktualisiert am 11.6.2020
Julia_Braun meint
Sehr geehrte Fr. Dr. Voos,
darf ich Sie fragen, wie es sich damit verhält, dass insbesondere traumatisierte Patienten offenbar neben dem Leid auch erotische Gefühle usw entwickeln (Anfang vorletzter Absatz)? Sind traumatisierte Patienten dafür eher prädestiniert, oder wie kann man das verstehen?
Vielleicht haben Sie ja eine Antwort darauf?
Mit herzlichen Grüssen und grossem Respekt für Ihren grossartigen Blog,
J. Braun