
Martin hat eine soziale Phobie. Als seine Therapeutin über den Parkplatz kommt und die Tür öffnen möchte, geht er drei Schritte zurück. Er will ihr nicht zu nahe kommen. Er errötet. Offensichtlich schämt er sich. Doch was steckt hinter dieser Reaktion? Andere Menschen können mit solchen Situationen viel natürlicher umgehen. Was Martin nicht weiß: Er wünscht sich Nähe. Doch er verbietet sich diesen Wunsch so sehr, dass er unbewusst bleibt. Dadurch ist Martin verwirrt. Er spürt nur, dass er unsicher und rot wird, wenn die Therapeutin kommt.
Wünsche werden sichtbar
Erst im Laufe der Therapie bemerkt Martin, dass er sich eigentlich wünschen würde, der Therapeutin näher zu sein und sie zu umarmen. Schritt Nummer Eins ist also geschafft: Martin ist bewusst geworden, was er sich wünscht. Doch wie soll er damit umgehen? Meistens weicht er nur noch mehr zurück, als er müsste. Er wehrt seinen Wunsche also mit einer Reaktionsbildung ab: Er tut das Gegenteil von dem, was er sich wünscht. Anstatt sich zu nähern, geht er weiter weg.
Wünsche sind keine Taten
Martin begreift mit der Zeit mehr und mehr, dass seine Wünsche noch keine Taten sind. Wenn er sich also wünscht, der Therapeutin näher zu sein, bedeutet das nicht, dass er sich ihr wehrlos um den Hals wirft.
Martin bemerkt, dass er stark genug ist, sich zurückzuhalten. Er bemerkt, dass er seinen Wunsch wahrnehmen und betrachten kann. Er kann mit der Zeit sogar darüber schmunzeln. Und er kann den Schmerz spüren, den dieser Wunsch mit sich bringt: Er darf sich der Therapeutin nicht in Wirklichkeit an den Hals werfen. Das ruft auch Wut hervor.
Wünsche sind erlaubt
Martin kann jetzt offen sein für seinen Wunsch nach Nähe. Er erlaubt es sich, diesen Wunsch zu bemerken, weil er die Phantasie als Phantasie erkannt hat und seine innere Stärke spürt. Er kann den Wunsch jetzt sozusagen gedanklich hin- und herschieben, er kann ihn containen.
Martin weiß jetzt: Er muss nichts machen. Er muss weder übermäßig weit zurückgehen, noch muss er die Therapeutin mit übergroßer Nähe bedrängen. Er kann warten, bis sie die Tür aufgeschlossen hat.
Martin hat sich seine Wünsche in dem Moment erlauben können, in dem er gemerkt hat, dass Wunsch und äußere Wirklichkeit zwei unterschiedliche Dinge sind und dass er die Kraft hat, seinen Wunsch nicht in die Tat umzusetzen.
Wie kann man innere Verbote lockern?
Martin hat bei seinen Eltern gelernt, immer anständig und höflich zu bleiben. Schon der Wunsch nach Nähe galt zu Hause als „unanständig“. Man darf es sich nicht zu bequem machen! „Wie schnell landet man bei dem Wunsch nach Nähe miteinander im Bett!“, so lautete die Befürchtung von Martins Mutter. Befürchtungen wie diese hat er sozusagen mit der Muttermilch aufgesogen.
Was ihm früher die Mutter verboten hat, verbietet Martin sich heute selbst.
Martin fühlt sich manchmal immer noch so, als sei es die Mutter, die ihm „etwas eintrichtert“. Er möchte sich freimachen davon und beginnt darauf zu achten, dass er immer mehr innere Verbote in Frage stellt. Langsam, sehr langsam kann er innerlich ein Verbotsschild nach dem anderen wegnehmen. Stück für Stück wird er freier.
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Dieser Beitrag erschien erstmals am 27.4.2015
Aktualisiert am 8.5.2020
Melande meint
Hallo Frau Volz,
könnten Sie zum Thema „Sozialangst“ (Angst, aufzufallen und abgewertet zu werden) nicht mal was schreiben über „Minderwertigkeitsgefühle“ wegen äußerlicher Besonderheiten, z.B. lange Nase, Narbe, großes Muttermal oder Verbrennung im Gesicht, klein-, sehr groß-, schief-wüchsig, Arm, Bein ab, und was es sonst noch so alles gibt?
Ich wäre Ihnen sehr dankbar!
Liebe Grüße
Melande