
Patienten sind Patienten und Therapeuten haben alles im Griff – oder? Viele glauben, dass man doch „ganz gesund“ oder „komplett stabil“ sein müsse, um Psychoanalytiker zu werden. Doch das ist nicht so. Zu Beginn meiner Ausbildung fragte ich einen erfahrenen Psychoanalytiker ganz direkt: „Wie gesund muss man sein, um Psychoanalytiker zu werden?“ Seine Antwort erstaunte und erleichterte mich zugleich. Dieser Analytiker erzählte mir, dass er selbst als Kind und junger Mensch mit vielen psychischen Problemen zu kämpfen hatte. Er erzählte, dass er seine Vergangenheit mithilfe einer eigenen Psychoanalyse bewältigen konnte.
Vom Analysanden zum Analytiker
Erst kürzlich verstarb der australische Psychoanalytiker Neville Symington (1937-2019) (IPA), Autor des wunderbaren Buches „Becoming a Person Through Psychoanalysis“ (Karnac Books 2007). Er sagte von sich selbst, dass er sehr krank war, als er seine Psychoanalyse begann und erst langsam zu einer „Person“ wurde:
Neville Symington:
„I was analysed by John Klauber (1917-1981). I came to him very definitely ill and in a state of inner and outer disarray, and I emerged from analysis some seven and a half years later a changed person. „
„Ich war bei John Klauber in Analyse. Als ich zu ihm kam, war ich definitiv sehr krank und in einem inneren und äußeren Zustand der Verwirrung. Ich ging aus dieser Analyse siebeneinhalb Jahre später als eine veränderte Person hervor.“ (A Farewell to Neville Symington, by Maurice Whelan, IPA-Blog 2020)
Die blinden Flecken kennenlernen
Bei der Psychoanalyse ist es zunächst wichtig, keinen Schaden anzurichten und die Dinge nicht schlimmer zu machen, als sie sind. Während man anfangs vielleicht noch glauben mag, man hätte alles im Griff, merkt man während der eigenen Lehranalyse vielleicht, wieviele eigene Verletzungen und Unzulänglichkeiten zu bearbeiten sind. Zweifel kommen vielleicht auf: „Kann ich denn überhaupt Analytiker*in werden, wenn ich so bin?“, fragt man sich.
Wichtig ist es, sich der eigenen blinden Flecken bewusst zu werden.
Frühe Störungen
Während der Psychoanalyse häufig nachgesagt wird, dass es insbesondere um „Konfliktlösungen“ ginge, so sieht es in der Realität doch so aus, dass frühe Störungen und schwere Bindungstraumata den Mittelpunkt vieler Psychoanalysen bilden. Psychoanalyse ist eine intensive Form der Traumatherapie und so mancher Psychoanalytiker hat sich auf die Analyse von Menschen mit Psychosen spezialisiert (insbesondere in den USA, wie mir scheint).
In der Lehranalyse treten manchmal die eigenen Traumata mit Macht ins Bewusstsein – selbst, wer vor Beginn der analytischen Ausbildung schon als Patient eine Psychoanalyse gemacht hat, wird nicht selten überrascht, was da alles noch an „Unfähigkeit“ und Unverarbeitetem in ihm steckt.
Vor- und Nachteile der eigenen Traumatisierung
Wer selbst Schweres erlebt hat, kann seine Patienten besser verstehen. Der Patient spürt die Verletzungen und Unzulänglichkeiten seines Analytikers, was der Psychoanalyse oft gut tut. Andererseits kann es immer wieder auch zu Schwierigkeiten kommen an den Punkten, an denen sich die Schwächen des Patienten und des Analytikers sehr ähneln.
Man kann an den eigenen kritischen Punkten sehr in den Bann des Patienten gezogen werden und streckenweise seine Fähigkeit zum Nachdenken verlieren. Doch die Ausbildung ist dazu da, an diesen Punkten wach zu werden und die Fähigkeit, auch in aufgeladenen Momenten zu mentalisieren, weiterzuentwickeln.
Lücken gehören zum Leben
In einer Psychoanalyse kann nicht alles bis in den letzten Winkel bearbeitet werden. So manchen Wunden kann man sich nur annähern. Immer wichtig ist es jedoch, die eigenen Schwächen zu kennen. Manchmal wagt man sich zusammen mit dem Patienten an ähnliche wunde Punkte heran, an denen die Lehranalyse und die Supervision besonders wichtig werden.
Darum geht es in der Analyse: Man wird sehend gemacht für die eigenen Schwächen.
Hier und da
Man erlernt vielleicht Kompensationsmöglichkeiten, vielleicht erlernt man Meditation und Yoga, wird insgesamt ruhiger, besonnener und beziehungsfähiger. Und man lernt seine Grenzen kennen: „Wo geht es nicht weiter und kann ich dennoch Analytiker werden?“, ist eine Frage in der Ausbildung, die immer wieder auftaucht.
Die Frage nach dem eigenen „Kranksein“ begleitet einen also fast immer während der gesamten Ausbildung und mit Sicherheit auch noch darüber hinaus.
Bei der Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung (DPV) kann man sich bei Interesse an einer Ausbildung zu Bewerbungsgesprächen anmelden. Hier eruieren die Lehranalytiker, ob der Bewerber/die Bewerberin geeignet ist für die Ausbildung oder nicht.
Sicher braucht es für die Ausbildung einen Grundstock an Empathie- und Schwingungsfähigkeit sowie Kontakt zu den eigenen Gefühlen. Vieles kann in der Psychoanalyse als „Technik“ erlernt werden.
Manchmal wird einem im Bewerbungsgespräch vorgeschlagen, sich zunächst noch einmal einer Patientenanalyse zu unterziehen und sich danach erneut zu bewerben. Andere wiederum sind überrascht, dass sie angenommen wurden, obwohl (oder gerade weil) sie selbst ihre Unzulänglichkeiten so sehr spüren.
Und schon eines wird in der Bewerbung sehr deutlich: Es braucht alles sehr viel Zeit. Die Ausbildung wird für viele zu einer intensiven Phase in ihrem Leben. Und manchmal braucht die Ausbildung auch so viel Zeit, dass es einem wie ein ganzes Lebensprojekt vorkommt.
Die Ausbildung ins Leben einbauen
Doch da man auch in der Ausbildung schon psychoanalytisch tätig ist, ist die Frage manchmal gar nicht mehr so wichtig, ob man noch in der Ausbildung oder schon fertig ist. Viele Analytiker sagen, dass es viel schwieriger ist, Analytiker zu sein und zu bleiben, als Analytiker zu werden. So kann man es vielleicht sogar ein Stück genießen, wenn sich die Ausbildung in die Länge zieht.
Der Wunsch nach Weitergabe
Sehr viele sagen, die Psychoanalyse hätte ihr Leben verändert. Schon allein aus Dankbarkeit möchte man vielleicht diesen Beruf ergreifen. Viele Patienten haben das Gefühl, dass Psychoanalytiker gar nicht wüssten, wovon sie reden, wenn sie ihre Nöte schildern. Doch bei Psychoanalytikern können sich die Patienten oft gewiss sein: Auch sie kennen Leid zu genüge. In vieles können sich Analytiker sehr viel besser hineinversetzen, als die Patienten glauben.
Wichtig für die Ausbildung sind übrigens gesunde Ohren bzw. ein ausreichend gutes Hörvermögen. Da der Patient auf der Couch liegt und der Analytiker dahinter sitzt, kann man sich nicht sehen. Gebärdensprache wäre da also keine Lösung. Ein gutes Hörvermögen (oder ein gutes Cochlea-Implantat) ist also die Grundvoraussetzung für die Ausübung der klassischen Psychoanalyse im Liegen.
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Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 29.7.2013
Aktualisiert am 7.3.2020
Michael meint
Ich möchte auch den Beruf aus Dankbarkeit ergreifen. Auch ich habe vor vielen Jahren sehr positive Erfahrungen mit einer tiefenpsychologischen Therapie gemacht. Das heisst, ich habe meine starken Defizite erkannt, mein Selbstwert gesteigert, Ängste überwunden.
Seit Jahren arbeite ich an mir und mit Anderen, eher aus Interesse, als um damit Geld zu verdienen.
Aber irgendwie muss man ja sein Geld verdienen, und ich glaube, ich habe die Gabe und den nötigen Lebenslauf, und die Leidenschaft um das zu tun.
Micha meint
Ich glaube die Lehranalyse ist ein sehr großer Vorteil gegenüber anderen Therapie-Ausbildungen.