
Alle vier Stunden kommt der nächste Angriff. Da kann man die Uhr nach stellen. Schon lange geht das so. Ohne Pause. Doch dann, eines Tages, liege ich da: Am Ende der vierten Stunde geschieht nichts. Es kommt die fünfte Stunde. Die sechste. Der Angriff bleibt aus. Ich liege lauschend auf dem Rücken. Was macht der Körper mit so einer schrecklichen Situation?
Der Körper erwartet den Angriff wie eine Garantie. Er hat sich schon immer auf den nächsten Angriff vorbereitet – mit Anspannung konnte er die Überraschung und das Grässliche etwas abmildern. Doch nun bleibt der Angriff aus. Aber die Spannung, sie bleibt. Wie lange?
Abwesenheit ist die Anwesenheit von etwas Schlimmerem. Die Abwesenheit von Essen macht Hunger. Die Abwesenheit von Trost macht Verzweiflung und Wut. Die Abwesenheit eines geliebten Menschen macht seine Abwesenheit selbst zu etwas „bösem Anwesenden“. Die Abwesenheit von etwas Bösem, das sich nicht mehr verorten lässt, ist eine gruselige Abwesenheit.
Wenn der Angriff ausbleibt, fühlt sich der Körper wie eingefroren an. Es ist wie ein Phatnomschmerz. Der Angriff bleibt aus, doch Körper und Seele können nicht entspannen.
Es wächst der Wunsch, bestraft zu werden, weil sonst die Leere zu groß ist. Jedes Kind wünscht sich lieber Strafe als Nicht-Beachtung, wobei Nicht-Beachtung die größte Form der Strafe ist. Im alten Griechenland soll es die „Sorge vor der ausbleibenden Naturkatastrophe“ gegeben haben, hörte ich. Wenn der Schlag ausbleibt, stellen sich alle Haare auf. Sie können nur langsam wieder absinken.
„Schau doch, es ist niemand mehr da, der Dich angreift“, hört man. Doch das vergrößert die Angst umso mehr. Einmal hörte ich eine Interpretation des Gedichts „Der Erlkönig“. Dort hieß es, der Junge sei daran zugrunde gegangen, dass der Erwachsene ihn nicht hörte, ihn nicht ernst nahm, seine innere und äußere, seine phantasierte und reale Qual nicht sah.
Komm‘ doch, komm‘ doch, Nana-nana Naana!
Ist denn da überhaupt noch jemand, wenn niemand mehr da ist, der mich angreift? Doch! Die anderen – sie werden vor meinem inneren Auge zu Angreifern. Ich bin wie im Fieber. Ich bekämpfe sie, obwohl sie mich gar nicht angreifen. Sie weichen verstört zurück. Ich mache sie zu Angreifern, weil ich sie dazu herausfordere. Ich mache sie zu Angreifern, weil ich sie angreife. Ich will es so wie früher! Sie verstehen mich nicht. Ich werde einsam.
Doch wie kann ich aus meiner Leere finden? Nicht mit Angriff. Sondern mit Vorsicht. Mit Ertasten der Realität, von der ich noch nicht weiß, ob sie gut oder böse ist. Ich muss es eine Weile offen lassen. Ich riskiere es, dass der andere gut ist.
Dunja Voos meint
Liebe Melande,
das freut mich! Vielen Dank für Ihren schönen Kommentar!
Dunja Voos
Melande meint
Oooh, ist das gut!
Diesen Text muss ich ungedingt noch mal lesen.
Ich versuche, die Inhalte in mein eigenes Denksystem einzubauen, um mich weiterzuringen:
Was man so alles in andere Menschen hineinprojiziert.
Nach Krisen, Konflikten, interaktionellen Missverständnissen,usw……nachdenken, in sich `reinhorchen, sich mit Vorsicht, Abstand und Ruhe der (gegenwärtigen) REALITÄT annähern.
Nicht Beim „Weg von…“ stehenbleiben.
Dann nach und nach frei werden für die Erfahrung, dass „das Frustrierende, Angst-machende, das Böse“ gar nicht kommt, stattdessen vielleicht sogar etwas GUTES!
Melande