
Immer wieder höre ich den Satz: „Der Patient braucht erst einmal Medikamente, um überhaupt therapiefähig zu werden.“ Nicht wenige Psychiater glauben, dass Patienten erst einmal Medikamente nehmen müssten, um für eine Therapie zugänglich zu werden. Ich frage mich sehr oft, was das heißen soll. Denn wenn der Patient noch keine Medikamente nimmt und seine Symptome sehr deutlich und schwerwiegend sind, ist es doch eine wunderbare Chance für den Patienten und den Therapeuten, genau damit zu arbeiten.
Bei alkoholisierten, drogenabhängigen und gewalttätigen Patienten, sind oft alle Gesetze außer Kraft gesetzt. In diesem Beitrag schreibe ich nicht über Extremfälle dieser Art, sondern über Patienten mit Traumata, Borderline-Störungen, Depressionen, Ängsten etc., die sehr schwer betroffen sind, die aber durchaus „therapiefähig“ sind, auch wenn viele Psychotherapeuten dies nicht glauben.
Schwere Störungen verstehen
Im Film „Take these broken wings“ von Daniel Mackler geht es um die Psychotherapie von schizophrenen Patienten ohne Medikamente ( https://www.youtube.com/watch?v=EPfKc-TknWU ). Der Psychoanalytiker Daniel Dorman konnte zunächst nichts tun, als einfach bei seiner Patientin zu sitzen. Seine Patientin Catherine konnte anfangs nur knien und wippen und hörte Stimmen. Und doch bewirkte allein seine Präsenz etwas, das sie auf Dauer aus diesem Zustand heraus holte.
Im Alltag haben wir es meistens nicht mit so extremen Fällen zu tun, sondern sehr oft mit Borderline-Störungen, Depressionen und Ängsten und dennoch sind viele Psychotherapeuten überzeugt davon, dass es erst Medikamente braucht, um einen Patienten „therapiefähig“ zu machen.
Es braucht eine gute Ausbildung
Ich denke, dass Patienten – von alkohlisierten, gewalttätigen und drogenabhängigen Patienten abgesehen – meistens „therapiefähig“ sind, aber dass es vom Weltbild des Psychotherapeuten abhängt, ob er eine Therapie mit einem Patienten „in diesem Zustand“ beginnen möchte oder nicht.
Ist es der Patient, oder der Therapeut der erstmal „therapiefähig“ werden muss?
Psychotherapeuten, die mit dem Bild arbeiten, dass sie einen „Klienten auf Augenhöhe“ vor sich haben, dem sie möglichst rasch zur Autonomie und Symptomreduktion verhelfen wollen, brauchen es vielleicht, dass der Patient ein bestimmtes inneres „Niveau“ erreicht. Dazu gehört aus ihrer Sicht, dass der Patient nicht mehr überwältigt ist von seinen Symptomen, dass er nicht halluziniert, dass er nicht mehr nur weinen muss, dass er nicht mehr nur schweigt, dass er über sich nachdenken und mit verständlichen Worten kommunizieren kann.
Es braucht viel Selbsterfahrung
Psychotherapeuten mit besonders intensiven Ausbildungen wie z.B. Psychoanalytiker haben oft ein anderes Bild: Für sie ist der Patient eben ein Patient und kein „Klient“. Die Behandlung basiert eher auf einer sogenannten „asymmetrischen“ Beziehung (der Therapeut ist „oben“, der Patient „unten“, vergleichbar mit den Positionen von „Mutter“ und „Baby“). Der schwer kranke Patient ist schwach und braucht die Hilfe des Analytikers. Da schon allein die „Präsenz“ einen therapeutischen Effekt hat, kann fast jeder Patient die Therapie beginnen, solange er hirnorganisch nicht vorgeschädigt ist.
Halluzinationen können analysiert werden wie Träume – auch im „produktiven“ Stadium kann es möglich sein, die Psychose wie einen „Alptraum im Wachen“ zu verstehen und die Kenntnisse von Sigmund Freuds „Traumdeutung“ zu Hilfe zu nehmen. Das ist jedenfalls die Erfahrung des Psychoanalytikers Bertram Karon, der in seinem Buch „Psychotherapy of Schizophrenia“ (Verlag Rosman & Littlefield) sehr eindrucksvoll darüber schreibt.
In Zeiten, in denen Psychotherapie immer kürzer dauern soll, in denen immer mehr Menschen in Psychotherapiegruppen gesteckt werden, in denen es wirtschaftlich zugehen soll, können sich viele Psychotherapeuten gar nicht mehr vorstellen, wie es ist, ausreichend Zeit und Raum für einen Patienten haben.
Sie können sich oft kaum vorstellen, Patienten psychotherapeutisch dort abzuholen, wo sie sind. Unsere Strukturen in den Kliniken geben es einfach nicht her. Aber das Wissen, dass es anders sein kann, wird erhalten bleiben – dank der Psychotherapeuten wie Bertram Karon (†), Harold Searles (†), Neville Symington, Daniel Dorman oder Danielle Knafo, die immer wieder in Mut machender Weise davon berichten.
ibag meint
In den probatorischen Sitzungen erscheint den PsychotherapeutInnen die Problematik erst einmal so komplex, dass Patienten erst einmal in Kliniken gesteckt werden, mit der Begründung sie könnten sonst nicht mit Ihnen arbeiten. Ist das nicht auch der eigenen Unsicherheit des Therapeuten verschuldet? Es muss erst einmal eine Basis da sein, das heißt auch Therapieerfahrungen des Patienten geschaffen werden, die von einer Klinik übernommen werden, damit der Therapeut mit dem Patienten dann besser arbeiten kann, wahrscheinlich brauchen manche Therapeuten erst einmal einen Bericht, Entschuldigung meine Aufgebrachtheit. In den Kliniken werden auch meistens erst einmal Medikamente verschrieben, die dann weiter verschrieben werden und die ganze Zeit durchgenommen werden müssen. Das der Patient vielleicht erst einmal aufgeregt ist und sich an das neue Unbekannte (Therapiesetting und Therapeut) gewöhnen muss, wird m. E. manchmal gar nicht berücksichtigt. Ich will nicht abstreiten, dass vielleicht mancher Patient wirklich erst einmal ein Kliniksetting braucht, aber m. E. werden ach erst einmal zu schnell Leute in die Klinik gesteckt.