
Es gibt noch viel zu verstehen. Sehr viel. Wenn ein Kind mit nur einer Hand zur Welt kommt, dann verstehen wir, dass ihm diese Hand sein Leben lang fehlen wird. Wir verstehen aber nicht, dass eine psychische Struktur regelrecht fehlen kann, wenn ein Kind bei der Mutter nicht die Beziehungserfahrung machen konnte, die es gebraucht hätte, um eben diese psychische Struktur auszubilden. Wir müssen noch viel lernen über den Begriff „Übertragung“, damit wir uns selbst und andere Menschen besser verstehen können.
Manche Kinder wachsen bei psychotischen Müttern auf. Sie spüren instinktiv, dass das, was die Mutter da zeigt, nicht „normal“ ist. Woher dieses Gefühl für „Normalität“ kommt, ist eine große Frage, die immer wieder lebhaft diskutiert wird. Es gibt den Begriff der „Präkonzeption“, der so etwas wie „Instinkt“ heißt bzw. ein tiefes inneres Wissen bezeichnet. Das Kind sucht nach der Brust, weil es innerlich ein Konzept davon hat, dass es sowas wie eine Brust geben muss.
Kinder schizophrener, alkoholkranker, narzisstischer, gewalttätiger oder Borderline-kranker Mütter starren ihre Mütter immer wieder an und versuchen, zu verstehen, was da in ihnen vorgehen mag. Sie nehmen jedoch die Beziehungserfahrungen, die sie mit ihrer Mutter machen, tief in ihre Seele auf.
Die Erschütterung hinterlässt Spuren
Wer als Kind Gewalt erfuhr, der spürt in nahen Beziehungen möglicherweise immer wieder die Angst, der andere könnte plötzlich zum Angreifer werden. Diese Angst wird quasi natürlicherweise allein durch die Nähe in der Beziehung hervorgerufen, wenn jemand viel Gewalt erfuhr. So halten die Betroffenen auch den friedlichsten Psychoanalytiker für potenziell gefährlich und gewalttätig. Das nennt sich Übertragung: Das Bild, dass der Betroffene von seiner Mutter hat oder von der Beziehung zu ihr, überträgt er unbewusst auf andere Menschen.
Solche schweren Beschädigungen und Übertragungen kommen in den vielfältigsten Formen vor. Wer nicht selbst schon einmal verzweifelt Übertragungen erlebt hat und gemerkt hat, wie starr sie sein können, wird kaum verstehen können, wieso manche Menschen immer wieder auf dieselbe Art reagieren.
„Nur, weil er eine böse Mutter hatte, heißt es doch nicht, dass er heute immer noch so feindselig auf andere Menschen zugehen muss. Irgendwann ist doch auch mal Schluss. Irgendwann muss er doch auch mal Verantwortung übernehmen und merken, dass die Situation heute eine andere ist als früher. Er kann doch nicht immer seine Vergangenheit als Entschuldigung nehmen.“
An Sätzen wie diesen krankt unsere Welt. Sätze wie diese machen uns einsam, denn wohl jeder von uns hat seine spezifischen „Störungen“, Übertragungen und Ängste, die sich nur sehr schwer, manchmal erst über Jahrzehnte, überwinden lassen. Es geht nicht darum, zu „entschuldigen“, sondern es geht darum, zu verstehen. Und um verstehen zu können, müssen wir manche Erfahrungen am eigenen Leibe, an der eigenen Psyche, in der eigenen Beziehung gemacht haben. Und manchmal fängt das Verstehen auch mit „Wissen“ an.
Wir brauchen viel mehr Wissen
Wissen über die Psyche ist immer noch rar gesät, auch wenn es unzählige Aufklärungen über Borderline, Depressionen etc. gibt. Häufig fehlt es dann doch an den entscheidenden Informationen über Bindung und psychische Entwicklung. Wir fangen gerade erst an, die Psyche zu verstehen. Hier entwickelt sich nur langsam mehr und mehr Wärme, aber immerhin: Der „Klimawandel“ im Bereich „Psyche“ ist zum Glück auch im Gange und er wandelt sich ins Positive. Vielleicht ist der „echte“ Klimawandel eine Chance für Veränderung auf vielen verschiedenen Ebenen.
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