
„Schau mal, du hast doch so viele Freunde“, hört der Einsame. Ja, aber er will eben seine Liebe finden. Er sucht die Partnerschaft. Dadurch wertet er die Freundschaft nicht ab. Aber er leidet eben daran, keine intime Beziehung zu einer Frau zu haben. „Schau mal, es gibt doch auch noch den Sport“, hört der Geiger, der einen Finger verloren hat. „Du wirst sicher auch ohne Studienabschluss glücklich“, ist der Spruch, der dem Gescheiterten um die Ohren weht. „Es gibt doch auch Wahlfamilien“, hört der Einsame, der keine Familie hat. „Ein Kind ist nicht alles“, sagt die Freundin zu der Frau, die nicht schwanger werden kann.
„Das meiste Leiden entsteht durch unsere Gedanken und Wünsche. Besonders, wenn wir mit einer Sache überidentifiziert sind, ist die Enttäuschung vorprogrammiert“, sagt ein buddhistischer Lehrer.
Die Tiefe des Lochs ist entscheidend
„Über-Identifizierung“ – es ist ein schwieriges Wort. Wenn ich für etwas brenne, hat es einen Grund. „Über-Identifizierung“ kommt oft dort zustande, wo es einen eklatanten Mangel gab. Wer ohne liebevolle Mutter oder Vater aufwachsen musste, wer massive Gewalt oder Vernachlässigung in der Kindheit erlebte, wer keine Geschwister hatte, wer aus der Heimat vertrieben wurde oder sonst einen tiefen Riss in sich trägt, der hat oft einen starken inneren Schmerz, der gelindert werden will.
Wie von der Tarantel gestochen fühlt man sich, wenn jemand sagt: „Gib’s doch auf, such‘ Dir was anderes, mach‘ mal ’ne Pause.“ Man ist noch nicht so weit. Man klammert sich fest wie das Äffchen an der Mutter, wie das Baby am Finger des Erwachsenen.
Dieser Schmerz kann den Menschen antreiben. Es gibt Linderungen, die dem Betroffenen tatsächlich zutiefst helfen. Ein eigenes gesundes Kind kann eine Frau oder einen Mann mit vielem versöhnen, was vorher unversöhnlich erschien – sogar mit dem Leben. Auch die Beziehung zu einem Liebespartner, das Finden des richtigen Lehrers, einer liebevollen Familie oder des richtigen Berufes kann tatsächlich einen extremen Hunger stillen. „Der arme Mann, das arme Kind, der arme Lückenfüller“, könnte man sagen. Doch meistens entsteht eine tiefe Dankbarkeit dafür, dass es nach reichlich Qualen, Bangen und Hoffen „doch noch“ geklappt hat. Eine Art von Schmerz wird vielleicht immer bleiben, aber die tiefe Verzweiflung, die vorher da war, kann abgemildert sein.
Vielleicht jeder Mensch, der für etwas brennt, hat eine Lücke, die fast unmenschlich schmerzt. Manche geben viel Geld aus für die richtige Behandlung, manche warten auf ein Spenderherz, manche brauchen Insulin und jeder braucht gewiss den nächsten Atemzug. Und sicher jeder Mensch braucht Liebe – vor allem als Baby, sonst stirbt er.
Das Dritte erleichtert
Manchmal, da wissen wir vielleicht, was mit Über-Identifizierung gemeint ist. Manchmal haben wir die erleichternde Idee, dass es auch anders gehen kann, dass wir einen Ausweg in etwas Drittem finden könnten, das uns ebenso tiefe Befriedigung finden lässt wie das „Eigentliche“, das wir suchten. Manche sagen, dass wir immer ein Stück Sehnsucht in uns tragen und nie die volle Befriedigung finden können. Ja, wir sind vielleicht immer auf der Suche, aber es gibt auch hier auf Erden das Sattsein.
Das Leben verläuft in Wellen und so können wir uns immer wieder auch vollkommen zufrieden und satt fühlen. Der Schmerz der Lücke kann immer wieder auftauchen und dennoch ist das Sattsein für den Moment eine wunderbare Erfahrung, weil man weiß: Ja, das gibt es. Es gibt auch für mich ein Sattsein, ein Gestilltsein, eine tiefste Zufriedenheit. Wer diese Erfahrung noch nicht gemacht hat, wird weiter danach suchen.
Die, die für etwas brennen, haben meistens eine tiefe Lücke als Vorlage. Sich mit weniger zufriedenzugeben kann manchmal klappen, aber oft bleibt dann so ein fieser Dauerhunger übrig. Denn das Brennen an sich kann auch schon erfüllen. Und ja, es ist eine Katastrophe, wenn man das Ersehnte nicht erreicht. Man fragt sich, wie man damit weiterleben soll. Vielleicht ist es ein Versuch, diesem Schmerz vorzubeugen, indem man sein Herz nicht zu sehr an die Dinge hängt. Aber ist es nicht auch ein wenig Selbstverleugnung?
Wichtiger als die Vorbeugung ist es vielleicht, einen anderen Menschen an seiner Seite zu haben, der versteht, was all das für einen selbst bedeutet. Es ist wichtig, jemanden zu haben, der den Kampf nachempfinden kann, der den Schmerz des Scheiterns, Verlierens, Vermissens und Nicht-Erreichens zusammen mit uns voll anerkennt. Manche verschmerzen es, anderen bricht es das Herz, wenn das Ersehnte nicht eintritt.
Manche brennen aus, manche sterben daran, wenn sie versuchen, zu erreichen, was sie vermissen. Aber man kann seine Suche, seinen Kampf auch überleben und finden, was man suchte. Vielleicht wird man dann von der „Melancholie der Erfüllung“ heimgesucht, vielleicht aber erlebt man auch eine tiefe Freude, die man so zuvor noch nie gespürt hat. Manche spüren auch nach dem Finden des Vermissten immer noch ihren persönlichen Ur-Schmerz und den Ur-Mangel und sie spüren, dass sie nur einen „Ersatz“ gefunden haben, während „das Wahre“ weiterhin fehlt. Und doch lohnt es sich, seinen Weg zu gehen und seine Erfahrungen in aller Tiefe zu machen.
„Was man liebt, das geht einem an die Nerven.“ Gehört von einer Tierärztin im Fernsehen, die Schwierigkeiten damit hatte, ihren eigenen Hund zu behandeln.
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Interessanter Link:
Why is overidentification a problem in econometrics?
https://www.quora.com/Why-is-overidentification-a-problem-in-econometrics
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