
„Le Moi-peau“, „Das Haut-Ich“ erschien erstmals 1985. Der französische Psychoanalytiker Didier Anzieu stellt in seinem Buch eine eher seltene Frage in der Psychoanalyse: Welche Bedeutung hat die Haut für die psychische Entwicklung? Ausgiebig befassen sich Psychoanalytiker mit Körperhöhlen, Darm, Mund, Anus und Genitalien, doch die Haut sei lange Zeit vernachlässigt worden, so Didier Anzieu. Die Haut ist die Hülle, die unsere Körperteile zusammenhält. So, wie die Mutter das Kind in ihren Armen halte und somit seine Körperteile halte, so halte auch die Haut den Körper zusammen – je nachdem, wie ein Kind gehalten und berührt wurde, so werden nach Anzieu auch die psychischen Anteile quasi von einer Hülle mehr oder weniger gut zusammengehalten. Das „Ich“ übernehme psychisch unter anderem die Funktion einer Haut.
„So wie die Haut eine Stützfunktion für das Skelett und die Muskulatur hat, dient das Haut-Ich dem Zusammenhalt [fonction de maintenance] der Psyche.“ Das Haut-Ich, suhrkamp, 6. Auflage 2016: S. 131.
Das Baby in den Armen der Mutter fühle sich zunächst so, als gäbe es nur eine Haut, die beide umhüllte. Spätere Trennungserfahrungen gingen manchmal mit mehr oder weniger bewussten Phantasien der Häutung oder des „Haut-Abziehens“ einher. Didier Anzieu nennt viele beeindruckende Beispiele aus der Kunst, in der dieses Bild des „Haut-Abziehens“ wieder auftaucht.
„Die nächste Stufe (Anmerkung: der Trennung von der Mutter) setzt das schrittweise Aufgeben dieser gemeinsamen Haut und die Anerkennung einer eigenen Haut und eines eigenen Ichs für jeden voraus, was nicht ohne Widerstand und Schmerzen vonstatten geht. Dabei werden die Phantasien der abgezogenen, der geraubten, der geschlagenen oder tödlichen Haut wirksam.“ (S. 89)
Worte umhüllen uns
Anzieu beschreibt auch, wie verstehende, tröstende Worte wie eine zweite Haut empfunden werden können, die sich sanft über den eigenen Körper legt. Musik werde manchmal wie eine „akustische Hülle“ (S. 69) empfunden und Patienten in der Psychoanalyse fühlen sich manchmal so, als ob ein schützender Umhang um sie gelegt würde oder ob eine schützende Haut entstünde.
Anzieu erklärt auch, wie sich in diesem Zusammenhang so mancher „Fell-Fetisch“ oder „Leder-Fetisch“ in der Sexualität verstehen lässt (S. 66).
Berührungen können uns nervös machen oder uns beruhigen – je nachdem, in welcher Beziehung wir zum anderen stehen, wir wir uns insgesamt gerade fühlen oder welche frühen Erfahrungen wir mit Berührung gemacht haben. Die Berührung der Mutter wirkt nicht nur befriedigend auf das Kind, sondern vor allen Dingen auch beruhigend. Beantwortet die Mutter die Äußerungen des Kindes dauerhaft mit nicht gut abgestimmten Berührungen, können anhaltende Irritationen und psychische Störungen beim Kind enstehen. So versteht Didier Anzieu unter anderem auch den Juckreiz als einen Ruf nach Verständnis.
„Juckreiz ist auch Ausdruck des unbändigen Verlangens, vom geliebten Objekt verstanden zu werden.“ S. 52
Das Buch ist sehr empfehlenswert für alle, die sich für die psychische Entwicklung, für Psychoanalyse, Psychosen und Neurosen interessieren. Allerdings ist es aus meiner Sicht oft schwer verständlich geschrieben, weil Anzieu seine weit entwickelten Theorien sehr selbstverständlich beschreibt, ohne zu berücksichtigen, dass der Leser dabei den Faden verlieren könnte, wenn dieses Thema für ihn noch Neuland ist.
Didier Anzieu:
Das Haut-Ich
Suhrkamp-Verlag, 6. Auflage 2016
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Dunja Voos meint
In der Psychiatrie höre ich das seltener, in der Psychoanalyse öfter … Herzliche Grüße, Dunja Voos
Nicoletta22 meint
Gibt es die Begriffe „Psychosen“ und „Neurosen“ in der Psychiatrie noch offiziell? Oder sind diese Begriffe eher in der Psychoanalyse (noch) verbreitet?