
Zu einem meiner Lieblingsseminare in der Psychoanalyse-Ausbildung gehört das Traum-Seminar nach Morgenthaler. Hier sitzen Psychoanalyse-Ausbildungskandidaten und zwei Seminarleiter in einer Runde und analysieren gemeinsam den Traum eines Patienten. Ein Ausbildungskandidat stellt einen Traum vor, den sein Patient in der Behandlung erzählt hat – natürlich in anonymisierter Form. Er sagt nichts über Alter, Beruf oder Lebensgeschichte des Patienten, sondern liest einfach nur den Traum vor, den er sich nach der Analysestunde notiert hat. Und dann geht das gemeinsame Assoziieren los.
Ähnlich wie in einer Balint-Gruppe setzt sich derjenige, der den Traum des Patienten vorgelesen hat, ein wenig zurück und sagt nichts mehr, während die Gruppe alle ihre Ideen und Gefühle zusammenträgt. Am Ende der Stunde erzählt der Ausbildungskandidat etwas zu Alter, Herkunft, Beruf und Lebensgeschichte des Patienten sowie zur therapeutischen Beziehung.
Faszinierend
Das Seminar endet damit, dass der Ausbildungskandidat den Traum nochmals vorliest. Es ist immer wieder faszinierend, zu welchen Schlüssen die Gruppe allein anhand ihrer Phantasien kommt. Es sind nur Phantasien und es ist nur Spekulation, dennoch kann die Gruppe oft „heraushören“, welche Diagnose der Patient möglicherweise hat, wie alt er ist oder wie die Beziehung zur Mutter aussieht.
Manchmal kann sogar erahnt werden, ob es sich um den ersten Traum handelt, den der Patient erzählt hat oder ob der Patient im Erzählen von Träumen schon geübter ist – selbst, wenn die Traumerzählung nur aus wenigen Sätzen besteht.
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Literatur:
Wittmann, Lutz et al. (2017)
Ein Traum, zwei Methoden:
Das Traumseminar nach Morgenthaler und das Zurich Dream Process Coding System (ZDPCS) im Vergleich
Journal für Psychoanalyse, 58, 2017, 99–129
DOI 10.18754/jfp.58.6, PDF
Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 23.3.2018
Aktualisiert am 30.12.2019
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