Identifikation mit dem Aggressor – ein komplizierter Begriff

Wenn man als Kind geschlagen wurde und später selbst sein Kind schlägt (obwohl man das eigentlich nicht will), hat wahrscheinlich eine „Identifikation mit dem Aggressor“ stattgefunden. Gemeint ist hier, dass man irgendwann so wird, wie der eigene Angreifer war. Man hat sich mit ihm „identifiziert“. Zudem benutzt man dieselben Argumente, die damals der Angreifer benutzte. Aus „Du bist ja selbst schuld und du hast es nicht anders verdient“, wird „Ich bin ja selbst schuld – ich habe es nicht anders verdient. Mein Vater (mein Angreifer/Aggressor) hatte schon recht.“ Doch ist der Begriff „Identifikation mit dem Aggressor“ nicht unglücklich gewählt?

Unter „Identifikation“ versteht man auch ein „Ich will mal so werden wie der Papa.“ Manchmal spielt der Sohn den Papa bewusst nach, manchmal ähnelt er ihm unbewusst. „Sich identifizieren“ lässt an etwas Aktives denken: „Ich will so sein wie der Star. Ich ahme ihn nach.“

Der Stempel vom Aggressor

Oft sieht es aber beim ehemaligen „Empfänger der Aggression“ so aus, dass er das Gefühl hat, sich nicht dagegen wehren zu können, so zu werden wie der Aggressor. Es ist, als sei die Aggression einerseits, aber auch die Unterwerfung andererseits wie „automatisch“ in ihn gekommen. Sie wurden quasi eingedrückt.

Eine Patientin beschreibt: „Da ist dieser Druck in mir. Diese Spannung, die so langsam aufsteigt und sich in meinem ganzen Körper breit macht. Und der, der mir gegenüber steht, verwandelt sich in jemanden, der mir nichts geben mag, der mir den Weg nicht frei macht, der Druck auf mich ausübt und dann bleibt mir nichts anderes übrig, als ihn in den Schwitzkasten zu nehmen. Ich denke nicht darüber nach. Es ist tief in mir. Es ist fremd, aber es gehört doch zu mir. Es hat niemals angefangen, es war immer schon da. Und wenn es zu Ende ist, komme ich zu mir und denke: ‚Was habe ich da wieder getan? Das nächste Mal will ich mich beherrschen.'“

„Ich fühle mich, als hätte jemand einen Stempel ganz tief in mich reingedrückt“, sagt ein Betroffener. „Es ist wie eine Brandmarke.“

Wo ist der Ausweg?

„Ich bin genau wie mein Vater – ich handele unter Spannung genau wie er, aber ich kann nicht anders.“ Wer so etwas fühlt und denkt, für den ist es schwer, da herauszukommen. Wichtig zu bedenken ist, dass das Geschehen nicht einseitig ist. Zwar handelt der Betroffene „wie der Vater“, aber davor geschieht etwas mit ihm: Er sieht die Welt so, wie sie früher war. Er erlebt wieder, was er früher erlebt hat – auch, wenn es für den Außenbeobachter heute anders aussieht.

Das Problem ist also nicht nur, dass der Betroffene so handelt wie sein ehemaliger Angreifer, sondern dass er sozusagen eine Erlebnisbrille trägt, die ihn alles wieder so erleben lässt, wie es einmal war: Die anderen erscheinen z.B. „böse“, obwohl sie es nicht sind. So reagiert der Betroffene auf etwas, das in Wirklichkeit gar nicht da ist.

Es ist wie ein permanenter innerer Dialog: Der Betroffene sieht sich angegriffen (obwohl er vielleicht gar nicht angegriffen wird) und er reagiert auf die Art, wie sein Vater/seine Mutter reagierten: aggressiv und mit Angriff. Der Betroffene wird laut, er wird trotzig, leistet Widerstand. Dabei läuft das alles quasi nur in ihm ab. Oft aber provoziert er die anderen auch mit dieser Art, sodass die anderen dann tatsächlich aggressiv oder auch ängstlich reagieren – dann haben wir es mit einer projektiven Identifikation zu tun.

Es geht hin und her. Vom passiven Hin- und Hergeschüttelt werden kann jedoch ein aktiveres Abwägen werden.

Den Kreislauf durchbrechen

Der Kreislauf kann durch verschiedene Weisen beendet werden, die aber unglaublich viel Zeit brauchen: Zum Einen muss sich das Erleben des ehemals Angegriffenen verändern. Und das ist sehr schwierig – oftmals ist dies am besten in einer Psychoanalyse möglich, wo der Betroffene die Chance hat, in der Beziehung zum Psychoanalytiker etwas „Altes“ wiederherzustellen. Er erlebt den Analytiker als „böse“ und erhält an dieser Stelle die Chance, sein Erleben ganz genau anzugucken. Durch das wiederholte Beobachten, Wiedererleben und In-Frage-Stellen kann es über die Zeit geschehen, dass sich das Erleben verändert, dass es nachlässt und der andere nicht mehr als Angreifer erlebt wird. Oft geht das einher damit, dass der Betroffene auch seine eigene Aggression spürt, die er auf den anderen projiziert hat.

Meistens geht die Veränderung des Erlebens einher mit der Entdeckung der eigenen Aggression und Angriffslust. Es kann jedoch alles mit ein wenig Abstand betrachtet werden und wirkt nicht mehr so bedrohlich wie früher. Die Identifikation mit dem Aggressor wird als eine Form der „Abwehr“ betrachtet. Doch manchmal erscheint sie wie eine Art „passive Vererbung“ ohne Abwehr. Wie eine Narkose, die ein Kind überwältigt hat, bevor es sich überhaupt irgendwie wehren konnte.

Gefühle kennenlernen

Der zweite Weg, der dazu gehört, ist, dass der Betroffene seine Gefühle so kennenlernt, dass er von ihnen nicht mehr so sehr übermannt wird. Auch das geschieht oft wieder durch genaues Beobachten, In-Sich-Horchen und Begleitet-Werden von einem anderen Menschen, z.B. vom Analytiker. Der Analytiker kann sozusagen für den Patienten die überstarken Gefühle „verdauen“, so wie die Mutter es mit einem Säugling macht. Überstarke Wut, Angst und Erregung können durch das Sprechen mit dem Analytiker langsam handhabbar werden.

So ist der Betroffene nicht mehr gezwungen, sofort zu handeln und kann sich das Geschehen mit der Zeit mit mehr innerem Abstand anschauen. Nicht, dass er sich selbst nicht mehr „erleben“ würde, aber es wird sozusagen der innere Beobachter gestärkt, sodass der Betroffene sich selbst zuschauen und besser steuern kann.

Alternativen kennenlernen. Und manchmal gehören auch ganz alltagspraktische Dinge dazu, um den Weg aus seinem Teufelskreis zu durchbrechen. Der Betroffene kann lernen, was „falsch und richtig“ ist im Umgang mit Menschen in seiner Kultur, er kann Handlungsalternativen erlernen, er kann „sprechen lernen“, sich dem anderen angstfreier mitteilen, er kann sein Alleinsein besser aushalten lernen, sodass er nicht mehr so furchtbar abhängig ist von der Reaktion des anderen, er kann lernen, „anzuklopfen“, anstatt den anderen zu überfahren und vieles, vieles mehr.

Einfach kompliziert

Was so einfach klingt: „Die Identifikation mit dem Aggressor“ ist also ein hochkomplexes Geschehen. Der Betroffene leidet unter seinem eigenen Fühlen, Denken, Erleben und Handeln. Diese vielen verschiedenen Ebenen zu berühren und zu verändern, kostet unglaublich viel Zeit, Kraft und Geduld.

Anmerkung: Es gibt natürlich auch eingegrenzte Formen der Identifikation mit dem Aggressor wie z.B. das bewusste „Kuschen“ vor einem übermächtigen Chef oder das „Stockholm-Syndrom“, bei dem die Opfer gegenüber dem Täter Sympathien entwickeln, um die bedrohliche Lage überleben zu können. Man kann sich in den Bösen hineinversetzen und dann eine Gegenposition, die Unterwerfung, einnehmen. Durch die Unterwerfung versuchen wir oft, den Aggressor zu zähmen.

Verwandte Artikel in diesem Blog:

Links:

Jay Frankel (2008):
Exploring Ferenczi’s Concept of Identification with the Aggressor
Its Role in Trauma, Everyday Life, and the Therapeutic Relationship
Psychoanalytic Dialogues: The International Journal of Relational Perspectives. Volume 12, 2002 – Issue 1: Pages 101-139
Published online: 1.7.2008
http://dx.doi.org/10.1080/10481881209348657
http://www.tandfonline.com/doi/abs/10.1080/10481881209348657

Elizabeth F. Howell:
Ferenczi’s Concept of Identification with The Aggressor:
Understanding Dissociative Structure with Interacting Victim and Abuser Self-States.
The American Journal of Psychoanalysis, Volume 74, Number 1, 1 March 2014, pp. 48-59(12)
https://doi.org/10.1057/ajp.2013.40
http://www.ingentaconnect.com/content/pal/ajp/2014/00000074/00000001/art00005

Hirsch, Matthias (1996):
Zwei Arten der Identifikation mit dem Aggressor nach Ferenczi und Anna Freud
Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie
http://psydok.psycharchives.de/jspui/handle/20.500.11780/2219

Buchtipp:

Dunja Voos:
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Dieser Beitrag wurde erstellt am 5.7.2017
Aktualisiert am 4.4.2024

One thought on “Identifikation mit dem Aggressor – ein komplizierter Begriff

  1. Thomas Waller sagt:

    Kann man „den Aggressor“ bitte gendern? Diese sexistische Schreibweise ist ja unwürdig.
    Ist Ihnen bewußt welch verzerrtes Bild der Wirklichkeit Sie abgeben?

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