Proxemik (Individualdistanz): richtiger Abstand durch Floskeln

„Machst Du bitte die Türe zu? Mir wird kalt“, sagte mir eine Freundin nach ihrer psychosomatischen Kur, in der sie gelernt hatte, ihre Bedürfnisse klarer zu äußern. Doch es fühlt sich nicht gut an, wenn jemand so spricht. Es klingt, als würde der andere sich über meine Nachlässigkeit ärgern. Manch ein Coach sagt: „Es geht nur um die Sache. Ein persönlicher Angriff ist das nicht.“ Aber warum fühlt es sich so an? Weil eine solche Aussage uns sprachlich zu nah kommt. So, wie wir körperlich einen gewissen Abstand zum Nächsten brauchen, so benötigen wir auch einen sprachlichen Abstand.

Wir können uns klar ausdrücken und die anderen dennoch berücksichtigen: „Ich würde gerne die Fenster schließen, weil mir kalt wird. Ist das in Ordnung für Dich?“ fühlt sich anders an als: „Ich möchte, dass die Fenster geschlossen werden.“ Die zweite Ausdrucksweise findet sich mitunter bei Menschen, die gerade eine Psychotherapie begonnen oder ein Kommunikationsseminar besucht haben.

Der Wohlfühl-Abstand

Floskeln, Füllworte und Höflichkeitsformeln führen dazu, dass wir uns nicht bedrängt fühlen. So fühlt es sich weniger absolut an: „Könntest Du vielleicht die Türe schließen?“ Proxemik ist der Fachausdruck für das Raumverhalten, das wir zeigen. Wie nahe wir einem anderen kommen dürfen, unterliegt ungeschriebenen Gesetzen. In der Gesellschaft haben sich gewisse Distanzen eingebürgert – und die sind von Kultur zu Kultur verschieden. Ein „Würde, Könnte und Vielleicht“ ist mehr als eine Floskel: Es ist das Zeichen dafür, dass der andere einfühlsam mit uns umgeht und unsere Grenze respektiert.

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Lese- und Videotipp:

Armin Poggendorf:
Proxemik: Raumverhalten und Raumbedeutung.
Umwelt & Gesundheit 4/2006: 137-140 (PDF)

Dr. Elisabeth Oberzaucher
Tele-Akademie: Homo Urbanus
SWR-Wissen, 30.1.2019

Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am: 22.10.2011
Aktualisiert am: 24.1.2023

One thought on “Proxemik (Individualdistanz): richtiger Abstand durch Floskeln

  1. Robby sagt:

    Hallo
    Sehr spannendes Thema und auch das PDF regt zum „drüber-nachdenken“ an, einiges ist mir aus dem Gesamtzusammenhang non-verbaler (körpersprachlicher) Kommunikation bekannt.
    Der Einbezug sprachlicher Äußerungen als Ausdruck ‚proxemischer‘ Grenzziehung ist mir neu, ich interpretiere die gehäufte Nutzung von „Floskeln“ eigentlich meist eher als Ausdruck unstrukturierten Denkens / unklarer Haltung.
    Hier würde mich dann auch folgendes interessieren: Erkrankungen der Haut (Haut als „Grenze-Beriech“ zwischen Innen / Umwelt verstanden) werden gelegentlich als Ausdruck einer konflikthaften Innen/Außen-Beziehung verstanden. Gibt es hier dann Krankheitsbilder die sich auf proxemisch bedingte ‚Grenzverletzungen‘ zurückführen lassen und mit welcher (statistischen)Sicherheit läßt sich soetwas dann wohl feststellen.
    Robby

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