
„Das ist doch bei mir schon längst angekommen! Ich habe mich doch schon verändert, ich habe es doch schon verstanden!“, rufen wir. „Davon merkt man aber nix!“, ruft der andere. Manchmal ist es, als sei der andere blind für das, was wir sind, wollen, tun, fühlen, können, denken. Die Diskrepanz zwischen dem, was in uns ist und was der andere in uns sieht, erscheint unaushaltbar. Wir sehen darin etwas Böses, weil wir meinen, der andere könnte uns sehen und richtig verstehen, wenn er nur wollte. Aber an dieser Stelle missachten wir den anderen: Auch er hat seine eigene Geschichte, seine Grenzen und Behinderungen. Auch er hat seine eigene Art zu denken und zu fühlen, er hat seine blinden und sehenden Stellen, genau wie wir.
Der andere ist fähig, Dinge in und an uns zu sehen, die wir selbst unmöglich sehen können. Der andere kann immer Dinge an uns feststellen, die wahr sind, die wir aber nicht wahrhaben wollen. Der andere kann aber auch selbst durch seine eigene Vergangenheit einen Filter vor dem „Verstehenssinn“ haben, sodass er nicht fähig ist, unsere Wahrheit zu sehen. Das schmerzt.
Materielles ist fest, Geistiges erscheint „flüssig“
Materielle Unterschiede können uns neidisch machen und uns belasten. Doch wir bekommen es irgendwie „verknüsert“. Womit wir oft aber überhaupt nicht klar kommen, sind gedankliche Unterschiede. Unterschiede im Denken und Fühlen führen zu den größten Kriegen. Sie führen zu Scheidungen und nicht umkehrbaren Kontaktabbrüchen. Es ist manchmal, als könnten wir auf geistiger Ebene keine Unterschiede ertragen. Der „Geist“, die „Seele“ wird als etwas Flüssiges oder Luftiges, Grenzenloses phantasiert und die Flüssigkeiten müssen zusammenkommen und Eins werden, damit wir uns wohlfühlen, so die Phantasie.
Wir fühlen uns wohl, wenn wir uns vom anderen gesehen und verstanden fühlen. Wir fühlen uns wohl, wenn der andere so denkt und fühlt wie wir.
In der Harmonie und Einigkeit fühlen wir uns „ganz“. Aber wenn es nicht so ist, geraten wir in Spannung. Ein Unterschied an einer Stelle, die uns zutiefst wichtig ist, kann das Gefühl des totalen Ausgestoßenseins, Abgelehntseins, von totaler Isolation hervorrufen. Wir fühlen uns nicht gesehen, nicht verstanden, „weggeworfen“. Wir fühlen uns, als seien wir für den anderen nicht da.
Wenn wir Spannung aushalten, geht sie nach einer Weile ganz von selbst zurück.
Selbstzweifel
Wenn der andere uns nicht versteht, fühlen wir uns vielleicht so, als hätten wir eine Behinderung, nämlich die Behinderung, dem anderen zu zeigen und klar zu machen, wie wir „wirklich“ sind. Hinzu kommt die eigene Schwierigkeit, unser Inneres zeigen zu wollen. Es ist für uns etwas Wertvolles, das wir schützen wollen. Und manchmal schützen wir es so sehr, dass der andere gar nicht sehen kann, wie wir „wirklich“ sind.
Unterschiede ertragen
Bei allen Möglichkeiten des „Nicht-Verstehens“ ist es jedoch wertvoll, die Unterschiede zu tragen. Nicht gleich weglaufen. Sich nicht gleich trennen. „Aber das Problem haben wir doch schon seit drei Jahren!“, sagen manche Paare. Aber was sind drei Jahre? Psychische Veränderungen gehen so langsam vonstatten und manchmal müssen wir auch den Wunsch aufgeben, dass sich Unterschiede auflösen. Den anderen sein lassen, wie er ist, ist oft eine Kunst, wenn wir selbst das Gefühl haben, dabei zu vergehen.
Lassen
Den anderen denken, wünschen, wollen, tun und machen lassen, was er eben will, ist mitunter sehr, sehr schwierig. Natürlich müssen wir Angriffe nicht einfach erdulden und wir können uns abgrenzen und schützen. Doch hier spreche ich von den Unterschieden, die uns einfach „gefühlt“ weh tun. Wir haben Angst, sie könnten uns schaden. Wir können immer wieder darüber sprechen, wir können daran „arbeiten“, aber wir können uns auch im So-Sein-Lassen üben, wir können neugierig sein oder einfach darüber meditieren.
„Bei einem letzten Kongress im Jahr 1900 zerstritten sich die beiden Freunde, nachdem Freud Fließ‘ Theorie von der Periodizität kritisiert und Fließ umgekehrt Freud vorgeworfen hatte, er lese in seine Patienten lediglich seine eigenen Gedanken hinein. Ihre Beziehung verschlechterte sich und die Briefe wurden seltener. 1906 kam es zum endgültigen Bruch. Im Anschluss daran vernichtete Freud alle Briefe von Fließ …“
Jean-Michel Quinodoz:
Freud lesen
Gießen, Psychosozial-Verlag 2004: S. 48)
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Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 25.5.2017
Aktualisiert am 19.1.2019
Anna7 meint
Freud verkrachte sich auch mit Jung, der jahrelang sein Freund war. Und zwar unwiederbringlich.
Freud kam mit Unterschieden wohl auch nicht so recht klar :)
Starker Artikel, Dunja! Daumen hoch.
Ich denke, es kommt vor allem auf die „Chemie“ an. Wenn sie stimmt, kann und sollte man Unterschiede aushalten und von ihnen lernen.
Stimmt sie nicht, ist es besser man vermeidet den Kontakt.
Manchmal kann dies das Bessere sein.
Es gibt Menschen, die tun sich gegenseitig einfach nicht gut.
Das sollte man akzeptieren, ohne dem anderen dafür die Schuld zu geben.
Es ist einfach so.