
Sexueller (Kinde-)Missbrauch kommt in unzähligen Farben und Varianten vor. Er kann von Partnern, Vätern, Müttern, Großeltern, Geschwistern und anderen Menschen ausgehen. Er ist meistens umso schlimmer, je näher der Täter dem Opfer steht. Sexuelle Gewalt, die von der Mutter ausging, kann besonders schlimm sein. Sexueller Missbrauch ist schlecht und ekelig. Die Opfer sind echte Opfer und verabscheuen selbst, was ihnen passiert ist. Das ist ein Teil. Was die Sache aber so ungeheuer schwierig macht, ist die „lustvolle“ Komponente dabei.
Medien verwirren die Opfer
Die Schuldgefühle der Opfer werden durch die Medien oft dadurch geschürt, dass sie sagen, die Opfer hätten „keine Schuld“. Die Betroffenen aber haben Schuldgefühle und sie glauben dann, ihre Gefühle seien „falsch“.
Die Betroffenen fühlen sich schuldig, weil sie sich doch irgendwie beteiligt fühlen. Sie meinen, sie müssten akrobatische Gedankenverrenkungen vollbringen, damit sie den Missbrauch endlich als voll und ganz schlecht erinnern und empfinden können. Dabei empfinden manche auch dies: dass sie – je nach Art und Form des Missbrauchs – als Kind manchmal auch die Situation selbst aufgesucht haben. Es war ihnen lieber, die Kontrolle zu behalten, als überfallen zu werden und manchmal suchten sie die Situation auf, weil sie ansonsten gar keine Zuwendung erfuhren und schließlich, weil fatalerweise ein Funken Lustvolles an der Sache war. Gerade Kinder, die unter besonders lieblosen Eltern litten, fanden in der Missbrauchssituation – je nachdem, wie sie geartet war – auch Momente der Zuneigung.
Besonders in der Gruppenpsychotherapie ist es schwer, über sexuellen Missbrauch zu sprechen, denn auch in der Gruppe kann bei den Mitgliedern sexuelle Erregung und Lust entstehen. Es ist wichtig, dass der Therapeut hier sensibel ist und dass man auch darüber sprechen kann.
Nicht wenige Patienten offenbaren in der Psychoanalyse, dass sie sich so furchtbar schuldig fühlen, weil sie eben nicht alles nur als „Igitt“ empfunden haben, sondern weil es auch Momente gab, die sie selbst als reizvoll und erotisch empfanden. Das Problem ist, dass sie selbst dieses Lustempfinden als „krankhaft“ verstehen, dabei ist es ja ein gesunder Teil in ihnen, der jedoch ganz furchtbar missbraucht wurde.
Alles falsch
Sexueller Missbrauch ist Sexualität am falschen Ort, zwischen den falschen Menschen, zur falschen Zeit. Die furchtbare Situation kann gemischt sein mit lustvollen Gefühlen. Diese Gefühle können in großer Not entstehen, weil sich Körper und Seele auf diese Weise zu schützen versuchen. Es ist nicht immer so, aber bei manchen Betroffenen kommt es vor, dass sie eben auch Lust empfinden und dass sie sehr verwirrt sind von ihren Gefühlen.
Ähnlich, wie der Körper bei zu großen körperlichen Schmerzen „abschaltet“ und ohnmächtig wird, so kann die Psyche zu große Qual oder Verwirrung „umswitchen“ lassen in „Lust“, damit sie es überhaupt aushält. Davon berichten beispielsweise Erwachsene, die als Kinder durch die Vojta-Therapie oder Festhaltetherapie gequält waren.
Die Opfer verbieten sich generell die Lust
Die Opfer leiden in der Folge jahre- und jahrzehntelang unter Schuldgefühlen, sobald auch nur die geringsten Gefühle des vermeintlichen „Genusses“ oder „Gefallens“ auftauchen. Die furchtbare Folge: Die Opfer verbieten sich später generell Genuss, Wohlgefühl und Lust, weil sie damals am falschen Ort, mit dem falschen Menschen, zur falschen Zeit empfunden wurden. Viele fragen sich dann ängstlich: „Bin ich pervers?“
Das Problem: Viele Opfer verbieten sich auch dann Lust und Neugier, wenn sie angemessen wäre – wenn sie am richtigen Ort, zur richtigen Zeit, zusammen mit dem richtigen Menschen auftauchen würden.
Vom Schulsport bis zum Arztbesuch: alles kompliziert
Das Problem wird offensichtlich, sobald die Betroffenen als Jugendliche einen Tanzkurs besuchen, wenn sie auf Partnersuche gehen, wenn sie im Sportunterricht sind, wenn sie in den Urlaub fahren, wenn sie zum Arzt müssen. Alle Situationen, die auch nur im Entferntesten an Körperlichkeit, Nähe, Erotik, Genuss und Sexualität erinnern, werden so zu einer furchtbar komplizierten Sache. Zu einer Drangsal.
Viele Opfer sexuellen Missbrauchs vermeiden Situationen von körperlicher Nähe. Nicht nur, um nicht an das Ekelhafte erinnert zu werden, sondern auch, um nicht an ihre eigene, furchtbar verwirrende Lust erinnert zu werden. Denn die ist in ihren Augen in jedem Fall verwerflich und mit Schuld und Scham belastet. Dieses undurchschaubare Gewirr aus echten Gefühlen und moralischen Vorstellungen wieder zu entwirren, ist für die Betroffenen oft eine jahrzehntelange und belastende Aufgabe.
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Dieser Beitrag erschien erstmals am 16.4.2015
Aktualisiert am 28.3.2019
Dunja Voos meint
Vielen lieben Dank, Redberry, für Ihren Kommentar, der nachdenklich macht.
Redberry meint
So entstand bei mir Eckel vor eigenem Körper und dann Verlust vom Körpergefühl. Nur Schmerz war etwas, was ich mir „erlaubte“. Deswegen verletzte ich mich selbst, sabotierte mich selbst und am Ende versuchte, mich umzubringen. Der Scham spielte dabei entscheidende Rolle.
leighanne meint
Danke für diesen Artikel, den ich als sehr entlastend empfinde!