
Schon Babys merken, welche ihrer Verhaltensweisen bei den Eltern erwünscht und welche unerwünscht sind. Sie können beispielsweise schon relativ früh Weinen unterdrücken, um die Eltern zu schonen, wenn sie merken, dass die Eltern sehr belastet sind.
Dasselbe kann auf allen möglichen Ebenen passieren – das Kind passt sich den Eltern an: Es verhält sich so, wie es den Eltern gut tut, besonders, wenn es sehr verletzliche oder verletzte Eltern sind. Es tut, was sie wollen, es wünscht sich das, was sie sich wünschen und es fühlt sogar oft das, was die Eltern sich vorstellen. Wenn die Eltern – oft unbewusst – zu viel Anpassung fordern, kann das Kind über die Zeit ein „falsches Selbst“ entwickeln.
Was ist das „wahre“ Selbst?
Das Kind, das ein „falsches Selbst“ entwickelt, verhält sich anders, als es sich fühlt. Es meint unter Umständen sogar, sich so zu fühlen, wie die Eltern es von ihm erwarten. Es ergreift ein Hobby oder einen bestimmten Beruf, den eigentlich nur die Eltern wollen. Das Kind drängt das „wahre“, lebendige Selbst zurück. Dies passiert meistens unter großem, offensichtlichen oder weniger offensichtlichen Druck der Eltern. Man sagt, das Kind wird von den Eltern „narzisstisch besetzt“, wenn es zum Beispiel ständig das Leben leben soll, das die Eltern sich selbst gewünscht hätten.
Die Folgen eines „falschen Selbst“ machen sich oft erst im Erwachsenenalter bemerkbar. Die Betroffenen fühlen sich Sinn-entleert und leiden möglicherweise an einer Depression oder narzisstischen Persönlichkeitsstörung.
Das „wahre Selbst“ kommt manchmal erst in einer Psychoanalyse wieder zum Vorschein, wenn der Betroffene seine „wahren“ Gefühle und Wünsche kennenlernt. Er bemerkt: Das „wahre Selbst“ ist meistens weniger anstrengend als das falsche Selbst; der Kontkat zu sich selbst und den anderen verbessert sich und Depressionen können zurückgehen, wenn man wieder ein „stimmigeres“ Leben führt.
„Wenn wir einfach einen verdammten Apfel essen, dann ist es unser wahres Selbst.“ Salman Akhtar
Ein „falsches Selbst“ erkennen wir manchmal daran, dass wir „falsche Wünsche“ entwickeln. Wir verfolgen Ziele, die gar nicht zu uns passen, mit großem Kraftaufwand. Wenn wir unser „echtes Selbst“ wiederfinden, kann vieles leichter werden.
Das „wahre Selbst“ ist immer da
Das „wahre Selbst“ geht nie verloren. Es macht sich ständig bemerkbar – wir spüren die ganze Zeit etwas „Unpassendes“, wenn wir dem „falschen Selbst“ zu sehr folgen. Wer an einem ausgeprägten „falschen Selbst“ leidet, ist häufig misstrauisch gegenüber der eigenen Wahrnehmung, den eigenen Wünschen und Gefühlen. Ein gesunder Abstand ist zwar angebracht, doch wir spüren häufig, wenn auch das Misstrauen „übertrieben“ ist.
Wir alle müssen uns anpassen – Anpassung ist etwas Notwendiges und häufig auch Gutes. Wir alle „müssen“ bis zu einem gewissen Grad auch ein „falsches Selbst“ haben. Zum Problem wird es nur, wenn das falsche Selbst so groß ist, dass man wirklich nicht mehr weiß, wer man ist. Der Begriff „falsches Selbst“ wurde vom Kinderanalytiker Donald Woods Winnicott (1896-1971) geprägt.
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Literatur:
Babies‘ Self Regulation: Taking A Broad Perspective
By Enid Elliot and Janet Gonzalez-Mena
YC Young Children; Washington Bd. 66, Ausg. 1, (Jan 2011): 28-32
https://www.jstor.org/stable/i40102779
Dieser Beitrag erschien erstmals am 9.2.2008
Aktualisiert am 3.10.2019
Gerhard Miller meint
Vielen Dank für diesen superkurzen, sehr informativen Artikel! Gefährlich wird die Sache dann, wenn das Kind in eine (co-)abhängige Familie hinein geboren wird und quasi die Gene für ein solches Verhalten noch „mit drauf bekommt“.
sisyphos meint
Mir begegnete der Begriff bei Alexander Lowen. Ich habe dann eine zeichnerische Darstellung davon gemacht, die die Dynamik und die abzuleitenden Therapieoptionen vermittelt, indem sie ein festes, aber verschmähtes Selbst einem löchrigen, aber energiehungrigen Falschenselbst gegenübersetellt. Das mögen die Leute.
Fein, dass ich den Begriff hier nochmal kurz definiert finde.
s.
Jonas P.W. Goebel meint
Hallo Dr. Voos,
gelungene Kurzdarstellung!
Wichtig zu ergänzen wäre, dass die tiefenpsychologisch-psychodynamischen Verfahren neben den analytischen besonders für die psychotherapeutische Bearbeitung von Ich- und Selbstproblemen geeignet sind.
Gruß,
Jonas Goebel
Dunja meint
Liebe Emma,
das freut mich!
Viele Grüße von Dunja Voos
Emma meint
Danke für die gute Zusammenfassung. Beschäftige mich gerade intensiv mit diesem Thema und hab mich gefreut beim googlen einen so guten und kurz gefassten Artikel zu finden :)
mo meint
hallo,
wo ich hier gerade über das „falsche selbst“ stolpere, möchte ich auf eine alternative betrachtungsweise hinweisen: j.e. mertz, „borderline…“, S. 66. Vielleicht sollten Sie in beiträgen wie dem obigen deutlicher machen, dass auch in der psychoanalyse mit modellen gearbeitet wird, die ihre stärken, aber auch schwächen haben. und gerade bei so elementaren ansätzen wie dem „falschen selbst“ ist dieses bewußtsein im hinterkopf wichtig.
gruß
mo