Achtsamkeit – ohne Anstrengung im Hier und Jetzt sein. Nichts bewerten, einfach wahrnehmen. Jeder Gedanke, jedes Gefühl oder jede Sinneswahrnehmung wird gewürdigt und als das akzeptiert, was es ist. Das ist gemeint, wenn von „Achtsamkeit“ (englisch: „Mindfulness“) die Rede ist. Wer sich gerade in einem Zustand der „Achtsamkeit“ befindet, der beobachtet seine Gedanken und Gefühle, ohne sich zu sehr mit ihnen zu identifizieren und ohne darauf automatisch zu reagieren. So beschreiben es der Psychoanalytiker Scott R. Bishop (Universität Toronto, Kanada) und seine Kollegen in dem Beitrag „Mindfulness: A Proposed Operational Definition“.
Ein psychischer Raum wird geschaffen
Auch der Psychoanalytiker ist in seiner Arbeit „achtsam“ – in der Psychoanalyse heißt diese Achtsamkeit, die der Analytiker gegenüber seinem Patienten und sich selbst aufbringt, „freischwebende Aufmerksamkeit“. Der Achtsame schafft sich einen „Raum“ zwischen Wahrnehmung und Reaktion (Antwort). Wer nicht sofort reagiert, ermöglicht es sich selbst, auf verschiedene Situationen mit mehr Bedacht zu reagieren. Kurzum: Es gibt mehr „Reflektion“ (= „Nachdenken“) als „Reflex“. Scott Bishop hat mit seinen Kollegen versucht, die Achtsamkeit zu definieren.
Dabei gibt es zwei Komponenten:
1. Der Achtsame lenkt seine Aufmerksamkeit auf das aktuelle Geschehen. Er konzentriert sich darauf, was er aktuell erlebt und was er dazu denkt. Er beobachtet seine Gedanken. Der Achtsame reguliert also selbst seine Aufmerksamkeit.
2. Die Aufmerksamkeit hat eine bestimmte Qualität: Der Achtsame ist neugierig, offen und akzeptiert die Dinge, wie sie sind.
Zur Selbstregulation der Aufmerksamkeit gehört, dass der Achtsame seine „Wachheit“ aufrechterhalten kann („Sustained Attention“). Er kann sich zum Beispiel auf seinen Atem konzentrieren. Dann kommen Gedanken auf und der Achtsame beobachtet sie. Dann gelingt es ihm aber auch, seine Aufmerksamkeit wieder dem Atem zuzuwenden. Das bezeichnen Scott Bishop und seine Kollegen als „Switching“ („Umschalten“).
Es wird nichts „verwertet“
Anstatt über Gedanken, Gefühle und Erlebnisse zu grübeln oder sie zu „bearbeiten“, anstatt nach den Ursachen und Gründen des gerade Erlebten nachzudenken, „erlebt“ der Achtsame die Vorgänge in seinem Körper und in seiner Psyche. Dabei sollen Gedanken nicht unterdrückt, sondern beobachtet werden. Sobald sie wahrgenommen und gewürdigt wurden, geht die Aufmerksamkeit wieder zurück, zum Beispiel auf den Atem. Dadurch verhindert der Achtsame, dass seine Gedanken, Gefühle und Sinneswahrnehmungen „sekundär“ verarbeitet werden. Der Achtsame interpretiert also nicht, er arbeitet nichts aus (er „elaboriert“ nichts), er erklärt nicht, verbiegt nichts und bleibt dadurch klar und unverwirrt. Der Achtsame sucht sich zum Üben Aufgaben aus, bei denen die Sprache keine Rolle spielt – das ist zum Beispiel der Fall, wenn er sich auf die Atmung konzentriert. Das „Denken“, also die „Kognition“, wird bei Achtsamkeitsübungen „gehemmt“. Der Achtsame orientiert sich am „Erlebnis“. „Erleben“ und „Erfahren“ sind also wichtiger als „Denken“.
Achtsamkeit kann man lernen und üben
Scott Bishop und seine Kollegen sehen die Achtsamkeit als einen aktiven psychologischen Prozess an. Der Übende reguliert seine Aufmerksamkeit aktiv. Bishops Meinung nach ist die Achtsamkeit also eine Fähigkeit („Skill“), die erlernt und durch Übung weiterentwickelt werden kann.
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Links:
Scott R. Bishop et al.:
Mindfulness: A Proposed Operational Definition
Clin Psychol Sci Prac 11: 230–241, 2004, doi:10.1093/clipsy/bph077
(Clinical Psychology: Science and Practice, V11 N3, American Psychological Association D12 2004)
Abstract (Zusammenfassung auf englisch)
http://www.personal.kent.edu/~dfresco/mindfulness/Bishop_et_al.pdf
Dr. Scott Bishop
Psychologist and Psychoanalyst
www.drscottbishop.ca/trauma.htm
Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 5.4.2013
Aktualisiert am 7.7.2019
Jay meint
Zen Meditation („Zazen“) ist auch eine sehr gute Achtsamkeitsübung, die mir schon oft die ersehnte Ruhe gebracht hat.
Man sitzt im Lotussitz, mit halboffenen Augen vor einer Wand und ist ganz und gar eins mit dem Moment, ohne sich von den aufkommenden Gedanken fort tragen zu lassen.
Wichtig ist, dass man ganz ohne konkretes Ziel und ohne einen verfolgten Zweck, einfach nur sitzt.
Am Anfang springen einem die Gedanken im Kopf herum, wie wilde Äffchen auf einem Baum, aber nach einer Weile wird es immer ruhiger im Kopf und man merkt wie die Gedanken des Alltags von einem abfallen.
Ich versuche seit Jahren jeden Abend mindestens fünfzehn Minuten zu sitzen. Ich kenne einen Zen-Meister, der an mehrtägigen „Retreats“ teilnimmt, bei denen teilweise sechs Stunden am Stück gesessen wird – das ist natürlich schon extrem.
Frank Beil meint
Nennt sich in der Psychoanalyse „Freischwebende Aufmerksamkeit“….. und gibt es somit schon ein schlappes Jahrhundert….