
Es fühlt sich echt an: Brustschmerzen, die in den linken Arm ausstrahlen, Atemnot und Todesangst lassen an einen Herzinfarkt denken. Doch wiederholte Untersuchungen ergeben keinen krankhaften körperlichen Befund. Die psychologische Diagnose allerdings hat viele Namen: Herzneurose, Herzphobie, Herzangststörung oder Herzsyndrom sind die Bezeichnungen für eine Angst ums Herz, die so manchen verzweifeln lässt. (Text & Bild: © Dunja Voos)
Das Ende naht – diesmal wirklich
Wer eine Spinnenphobie hat, der hat’s gut: Er kann einfach weglaufen, wenn er eine Spinne sieht. Bei Phobien, die auf das Herz bezogen sind, ist das nicht so. Die Angst vor einer unerkannten Herzkrankheit lässt den Patienten nicht mehr ruhen. Sie kann auch Teil verschiedener hypochondrischer Ängste sein. Beim nächsten Anfall von Herzrasen oder Schmerzen denkt der Betroffene sich: „Das war’s jetzt wirklich. Wenn es bisher nichts war, dann eben jetzt.“
Kleine Zufallsbefunde verunsichern den Betroffenen
Häufig sind Männer im Alter von 40-45 Jahren von der Herzneurose betroffen (Asnaani et al., 2009). Wenn sich in einer Echokardiographie zufällig ein harmloser „Fehler“ der Herzklappe (Mitralklappenprolaps) herausstellt, dann erklärt der Arzt dem Patienten manchmal, dass dies die Ursache für die Beschwerden sei. Einige Studien sagen jedoch, dass der Mitralklappenprolaps nicht ursächlich für die Herzangstneurose verantwortlich ist (Crowe et al. 1980, Margraf et al. 1988). Doch der Patient sorgt sich von Stund‘ an um seine Herzklappe, obwohl es sich sozusagen nur um einen „Schönheitsfehler“ handelt.
Stresszeichen während der Untersuchung sind normal. Die Sorge, das Herz könnte stehenbleiben, steht bei vielen Betroffenen an erster Stelle. Nicht selten werden sie von Untersuchung zu Untersuchung geschickt, denn während eines „Anfalls“ kann es durchaus sein, dass das Elektrokardiogramm (EKG) auch Stresszeichen zeigt, wie zum Beispiel eine beschleunigte Herzfrequenz und Extraschläge (Extrasystolen).
Das Leiden lässt sich nicht wegreden
Nicht jeder Betroffene hat dieselben Beschwerden. Herzphobiker leiden unter panikartigen Anfällen, Herzhypochonder sorgen sich ständig um ihr Herz und Herztodphobiker sind sich gewiss, irgendwann am Herztod zu sterben. Wie auch immer: Die Symptome quälen sehr, das Leiden ist groß, die Beruhigung durch den Arzt hält nur wenige Stunden an. Manche Patienten wünschen sich Beruhigungsmittel, doch die helfen nicht, denn was beunruhigt, ist etwas anderes.
Psychologen teilen die Herzneurotiker ein in A- und B-Typen. So genannte A-Typen sind eher passiv, klammern sich an den Arzt und neigen zur Depression. B-Typen sind solche, die im Sommer braun gebrannt und mit stählernem Körper an einem vorbei joggen. Pro-aktiv versuchen sie, ihren Körper in Bestform zu halten und „flüchten“ in die Gesundheit. Sie überspielen gerne ihre Angst vor einer Herzkrankheit. A-Typen leiden eher unter eine Herzphobie, die B-Typen eher unter einer Hypochondrie.
Von Hass und Liebe
Wer psychotherapeutische Hilfe annimmt, der kann vielleicht herausfinden, dass er in einem Konflikt zwischen Hass und Liebe steckt. Vielleicht ist die Partnerschaft gerade schwierig oder es gibt Probleme mit Kollegen und Vorgesetzten am Arbeitsplatz. Oft kommt es auch in Trennungssituationen zu den ersten Anfällen: Beim Auszug von Zuhause oder zu Beginn des Studiums. Der Patient fühlt sich in den meisten Fällen alleingelassen. Besonders beängstigend ist es, wenn im Freundes- oder Verwandtenkreis Menschen an einem Herzinfarkt sterben. Wenn nahe Verwandte an einem Herzinfarkt gestorben sind, kann die Herzangstneurose auch entstehen, weil sich der Überlebende unbewusst schuldig fühlt.
Ärzte werden unglaubwürdig
Wer immer wieder starke Herzbeschwerden hat, der wird auch häufig untersucht. Die Ärzte veranlassen einerseits immer mehr Untersuchungen, andererseits erklären sie den Patienten für „gesund“. Es ist ein Glück, wenn der Patient auf einen Arzt trifft, der ihn rundum ernst nimmt und ihm sagt: „Das Herz ist gesund. Aber dennoch sind Sie ‚krank‘. Ihre Seele zeigt Ihnen, dass etwas nicht in Ordnung ist. Sie leiden an einer Herzneurose. Psychotherapeutische Gespräche können dazu beitragen, dass sich Ihr Herz wieder frei anfühlt.“
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Diagnosenummer nach ICD 10:
F45.3 Herzneurose (Somatoforme autonome Funktionsstörung)
Literatur:
Anu Asnaani et al. (2009):
Panic Disorder, Panic Attacks and Panic Attack Symptoms across Race-Ethnic Groups:
Results of the Collaborative Psychiatric Epidemiology Studies
CNS Neuroscience & Therapeutics, First published: 7 August 2009
Volume 15, Issue 3, September 2009: Pages 249–254
DOI: 10.1111/j.1755-5949.2009.00092.x
http://onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1111/j.1755-5949.2009.00092.x/full
Hoffmann/Hochapfel:
Neurosenlehre, Psychotherapeutische und Psychosomatische Medizin
Schattauer Verlag 1995: 110-114
Horst Eberhard Richter, Dieter Beckmann:
Herzneurose
Psychosozial-Verlag, 2004
Werner Bräutigam, Paul Christian, Michael von Rad:
Psychosomatische Medizin. Ein kurzgefasstes Lehrbuch.
Thieme Verlag
Raymond R. Crowe et al. (1980):
A Family Study of Anxiety Neurosis – Morbidity Risk in Families of Patients With and Without Mitral Valve Prolapse.
Arch Gen Psychiatry. 1980; 37(1):77-79. doi:10.1001/archpsyc.1980.01780140079008.
archpsyc.jamanetwork.com/article.aspx?articleid=492254
J Margraf, A Ehlers and W T Roth (1988):
Mitral valve prolapse and panic disorder: a review of their relationship.
Psychosomatic Medicine March 1, 1988 vol. 50 no. 2 93-113
www.psychosomaticmedicine.org/content/50/2/93.short
Zvolensky, Michael J. et al. (2008):
Cardiophobia: A Critical Analysis
Transcultural Psychiatry, Vol 45, Issue 2, 2008
http://journals.sagepub.com/doi/abs/10.1177/1363461508089766
Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 26.2.2012
Aktualisiert am 23.11.2019
Jay meint
Interessant, wie ich mich durch Lesen dieses Blogs in so ziemlich jeder beschriebenen, neurotischen Störung wiederfinde, bzw. dass ich sehr oft identische oder zumindest ähnliche Erfahrungen gemacht habe:
Ich kann mich erinnern, wie ich früher, mitten in der Nacht mit dem Motorroller in die Notfallambulanz des örtlichen Krankenhauses gefahren bin, weil ich schon seit Stunden ein merkwürdiges Ziehen im linken Arm und Brust verspürte.
Die diensthabenden Ärzte nahmen mir genervt Blut ab und machten ein EKG,
nur um mir anschließend noch genervter zu erklären, dass ich nichts am Herzen hätte
und eventuell unter einer Muskelverspannung oder etwas ähnlichem leiden würde.
Da war es bereits 3:30 Uhr morgens.