
In der Psychotherapie gehen Therapeuten allzu leicht davon aus, dass die Menschen leben wollen, dass ihnen Menschenleben wertvoll ist, dass Weiches angenehmer ist als Hartes und dass Sich-Wohlfühlen besser ist als Qual. Therapeuten fordern die Patienten auf, sich diesem „Guten“ zuzuwenden. Was aber, wenn sie damit gegen die innere Logik des Patienten arbeiten? „Wenn Sie nicht aufhören, zu rauchen, werden Sie daran sterben!“, sagt der Arzt. Und der Patient denkt leise: „Eben das ist ja mein Ziel.“
Die Psychoanalyse zieht das Gegenteil in Betracht
Wir haben nicht nur einen Lebenstrieb, sondern auch einen Todestrieb, wie Freud es ausformulierte und ausarbeitete. Das Schöne an der Psychoanalyse ist, dass sie meistens auch das Gegenteil von dem in Betracht zieht, was sie sieht. Psychoanalytiker werden darin geschult, zu erkennen, dass selbstverletzendes Verhalten eben auch ein Versuch der Selbstfürsorge sein kann. „Mein Psychotherapeut verwehrt mir weitere Termine, wenn ich nicht aufhöre, mich selbst zu verletzen“, höre ich Patienten manchmal sagen. Psychotherapeuten sind auch nur Menschen mit Grenzen. Auch sie können überfordert sein und sie halten die Angst im Zusammensein mit dem Patienten vielleicht nicht mehr aus. Doch manchmal handelt es sich bei dem Verwehren von Kontakt auch um eine unreflektierte sadistische Gegenübertragung, um Nicht-Verstehen oder schlicht um ein psychotherapeutisches Konzept im Kopf.
Hinter vielen bewussten Wünschen steckt auch ein unbewusster Gegenwunsch.
Im Unbewussten sitzt das Gegenteil
Manche Menschen wuchsen so auf, dass sie sich nur an aversive Gefühle in Kontakt mit der Mutter erinnern. Wenn der Mensch, der uns am nächsten steht, weder Schutz noch irgendetwas Gutes bietet, verkehrt sich mitunter unsere ganze Innenwelt ins Gegenteil. „An meiner Mutter/an meinem Vater war nichts Gutes! Ich will sie/ihn voll und ganz ausspucken!“, sagen manche. Sie können sich an keine einzige gute Berührung erinnern und wenn, dann verdrängen sie es, denn es war nicht gut, von einem Menschen, der einem nicht gut tat, für Momente etwas Gutes zu bekommen. Wenn man in Betracht zieht, dass man es bei einem Patienten mit jemandem zu tun hat, für den Berührung, Weiches, Zärtliches wirklich nur schrecklich war, dann wird klarer, warum wir mit unseren „guten Wünschen“ bei dem Betroffenen nicht weiterkommen. Er vermeidet „das Gute“, wo es nur geht. Weil es ihm Angst macht, weil es in ihm Entsetzen oder das Gefühl von Schutzlosigkeit und Ekel auslöst.
Wie aber zum Guten finden?
Wie aber findet man bei einem solchen Menschen zum Guten? Es ist schwierig und immer wieder anders. Manchmal erscheint es fast unmöglich. Vielen hilft es jedoch, wenn ihr „Schlechtes“ wirklich ernst genommen wird und sehr viel Raum bekommen darf. Die Betroffenen möchten dem Therapeuten zeigen, wie es ihnen geht und in welcher entsetzlichen Welt sie leben. Ganz versteckt und vergraben ist meistens doch irgendwo die Sehnsucht nach dem Guten und „das Gute“ selbst ist oft sehr versteckt im psychisch Leidenden. Es bringt meistens nichts, am Patienten zu kratzen so wie man an der Autoscheibe kratzt, um das lästige Eis loszuwerden. Oft eröffnet sich der Weg von hinten. Der Betroffene braucht viel Zeit und ist angewiesen darauf, dass der Therapeut auch kreativ denken kann und sich nicht nur vom Augenscheinlichen in die Irre führen lässt.
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Sorgen_Sie_gut_fuer_sich (PDF)
Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 18.2.2018
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