Unter „Übertragung“ versteht man normalerweise so etwas wie: „Du siehst meinem Vater ähnlich, also fühle ich mich bei Dir wie bei meinem Vater und behandele Dich auch so.“ Wir übertragen altbekannte Gefühle auf den anderen. Bei einer „Selbstobjekt-Übertragung“ dreht sich der Betroffene um sich selbst und hat starke Wünsche an den Analytiker, so wie ein Kind an die Mutter: „Du sollst mich verstehen, empathisch sein und mir von Deiner Kraft abgeben. Du sollst mir nützen“, so die verschlüsselte Botschaft des Betroffenen an den Analytiker. Der Analytiker wird als „Selbstobjekt“ betrachtet, als jemand, der mir hilft und der mir zu meinen Diensten steht.
Im negativen wie im positiven Sinne
Texte zur Selbstobjekt-Übertragung haben mitunter einen negativen Touch, da in diesem Zusammenhang oft psychisch leidende Menschen beschrieben werden, die manchmal sehr „fordernd“ wirken oder kaum eine andere Beziehung eingehen können als eine „ausnutzende“, so der „Vorwurf“ an den Patienten. Vielleicht ist es ein Vorwurf, den einst eine geschwächte Mutter an den Patienten gerichtet hat. „Du bist mir zu viel“, hat sie vielleicht gedacht. Man kann die Selbstobjekt-Übertragung auch positiv sehen: Sie findet statt, wenn der Patient eine vertrauensvolle Beziehung zum Analytiker aufgebaut hat. Es kann für beide Seiten etwas Genussvolles sein. Der Patient nimmt die Kraft des Analytikers in sich auf, oder anders ausgedrückt: Durch die wohlwollende Beziehung entwickelt der Patient seine eigene Kraft. An dieser Entwicklung hat auch der Analytiker seine Freude.
Quelle: Mertens: Objektale Übertragungen und Selbstobjekt-Übertragung. In: Praxis der Psychotherapie. 5. Auflage 2012: 159
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