
„Werden meine Ängste, Depressionen und psychischen Verletzungen eigentlich in der Psychoanalyse geheilt oder nur abgemildert? Lerne ich nur, damit umzugehen, oder sind die unangenehmen Zustände dann wirklich weg?“ Mit dieser bangen Frage beginnen wohl die meisten Menschen, die hohen Leidensdruck haben, eine Psychoanalyse. Zuvor haben sie es manchmal mit anderen Psychotherapieformen versucht, in denen sie „Handwerkszeug“ mitbekommen haben, um aus ihren verwirrenden, beunruhigenden und bedrängenden Zuständen herauszukommen. Und dennoch fehlt den Betroffenen innerlich etwas. (Text & Bild: © Dunja Voos)
Manche Probleme vergehen während des Psychoanalyse-Prozesses. Manchmal weiß man nicht, wie es geschah, aber man spürt, dass es mit der Psychoanalyse zusammenhängt.
Vergleiche schwer möglich
„Es gibt effektivere und schnellere Methoden als die Psychoanalyse“, heißt es oft – gerade, wenn es um Traumata geht. Doch es ist immer die Frage, was der Betreffende erreichen möchte und kann. Was in der Psychoanalyse wirkt, ist der Mensch. Die Beziehung zum Therapeuten ist das, was heilt. Die tiefere Wirkung kommt oft erst in Gang, wenn der Patient über längere Zeit in der Psychoanalyse und Vertrautheit entstanden ist. Es braucht oft lange, bis der Patient sich im asymmetrischen Setting wohl fühlt: Der Psychoanalytiker sitzt hinter dem Patienten, der Patient liegt auf der Couch – das ist besonders für schwer traumatisierte Patienten sehr gewöhnungsbedürftig. Manchmal ist erst eine längere Therapie im Sitzen notwendig, bevor der Patient sich auf die Couch legen kann.
Zugangswege
Wenn die Situation so stabil ist, dass sich der Patient bei seinem Psychoanalytiker entspannen kann, kann sich die Psyche wirklich verändern. Der Patient und der Analytiker kommen immer wieder in tranceartige oder meditative Zustände (freie Assoziation und freischwebende Aufmerksamkeit), wobei beide in ihren Zuständen offen sind und gut erreicht werden können. Die Kommunikation zwischen „Unbewusst und Unbewusst“ oder „Gefühlswelt und Gefühlswelt“ ist gut hergestellt.
Bereit
Dann kommt der Patient irgendwann an den Punkt, an dem etwas greifbar wird. Er kommt vielleicht wieder in den schmerzhaften Zustand, in dem er war, als ihm die Worte fehlten – sei es, weil er noch sehr klein war und/oder weil die Situation absolut überfordernd war. In der Regel stellen die Patienten unbewusst die alten Situationen wieder her. Freud sagte dazu: „Erinnern, wiederholen, durcharbeiten“. Man könnte hier auch sagen: „Erinnern, wiederholen, Schmerz halten.“ Wer einem Trauma ausgesetzt ist, der leidet meistens besonders darunter, dass er isoliert war. Es ist ähnlich wie bei körperlichen Verletzungen: „Als ich mich im Wald so schwer verletzte, war es für mich das Schlimmste, dass ich alleine war“, sagt eine Patientin in der Chirurgie. Ein anderer sagt: „Meine Freundin war die ganze Zeit bei mir und konnte mir beistehen.“ Der Schmerz ist abgeschwächt, wenn eine nahestehende Person dabei ist. So ist es auch mit den unaussprechlichen, massiven psychischen Schmerzen, die manche Menschen erlebt haben. Sie hatten weder Zeugen noch praktische Hilfe noch Verständnis. Der Analytiker wird nachträglich zum Zeugen.
Berührt. Wenn nun der alte Schmerz, die alte Unruhe und Angst in der Psychoanalyse wieder auftauchen, dann sind die besten Voraussetzungen für eine neue Erfahrung geschaffen. Man spürt alles wieder ganz genau, aber man kann es zulassen, weil da jemand sitzt, bei dem man sich gehalten fühlt. Manchmal wird es dann ganz ruhig, niemand muss mehr etwas sagen. Vielleicht hört man sich und den Analytiker einfach nur leise atmen. Wenn der Analytiker dann in einem Zustand ist, in dem er den Patienten gut verstehen kann, in dem er den Schmerz des Patienten gleichzeitig nachempfinden und halten kann, dann kann sich das anfühlen wie ein Berührtwerden im tiefsten Inneren.
Neu
Der Patient spürt auf einmal, wie es ist, wenn da noch jemand ist, wenn er eben nicht alleine ist mit dem bisher Unaushaltbaren. Er spürt, wie es ist, wenn sein Schmerz gehalten wird. Dadurch entwickelt sich psychisch etwas Neues: Der Patient kann sich später an diesen Moment erinnern und er bekommt die Vorstellung, dass er selbst seinen Schmerz genau so halten kann wie „der Analytiker in ihm“. Der Schmerz ist nun mit der Erinnerung an das Gefühl des Gehaltenwerdens verknüpft. Der Patient weiß, dass jetzt auch ein anderer weiß, dass ein anderer nachträglich das Geschehen mitgespürt hat und dass mithilfe des anderen das Unheilvolle begreiflich wurde. Der Patient fühlt sich weitaus weniger verlassen als vorher.
Der Analytiker kann den Schmerz nur halten, wenn er sich selbst gut gehalten fühlt oder einst gehalten und verstanden wurde. Daher ist die Lehranalyse in der psychoanalytischen Ausbildung unersetzlich und von unschätzbarem Wert.
In der Psychoanalyse können sehr schwere Traumen bearbeitet werden.
Der Schmerz ist im zukünftigen Leben nicht weg, das Geschehen lässt sich nicht ausradieren. Aber es entsteht das Gefühl, dass etwas gehalten wurde. Dieses Gefühl kann so heilsam sein, dass der Betroffene sagt: „Ich fühle mich geheilt.“ Er kann jetzt „damit leben“ und „damit umgehen“, aber vom Gefühl her ist es viel mehr: Es ist das Gefühl, dass ein anderer ihn innerlich so berühren konnte, dass das vorher Namenlose „integriert“ werden konnte. „Es“ gehört von da an zu ihm. Die tiefgreifende Veränderung ist im „Now Moment“ für den Analytiker und den Patienten genau spürbar – das macht die Psychoanalyse so wertvoll. Hier kann nichts beschleunigt werden. Um das Gehaltenwerden so zu erleben, braucht es viel Zeit.
Beitrag als PDF: Schmerz_halten_als_psychoanalytische_Technik
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Nessaia meint
Wenn man in den Beziehungen zu seinen Eltern die ganze Kindheit über unter großer Einsamkeit und dem Gefühl gelitten hat, nicht verstanden und nicht wertgeschätzt zu werden, dann bringt die Psychoanalyse sicher mehr Erfolg als EMDR, weil es sich um eine Vielzahl von Mikro-Traumata, eben um permanente „Beziehungstraumatisierungen“, also um sich ständig wiederholende, krank machende Beziehungserfahrungen handelt, die oft nur ganz subtil sind, sich aber trotzdem auf die Dauer sehr negativ auf die Entwicklung eines Kindes auswirken. Da glaube ich auch, daß EMDR in solchen Fällen nicht so arg viel ausrichten kann; das ist irgendwo logisch. In solchen Fällen ist es sicher wichtiger, mit einem Analytiker über einen längeren Zeitraum eine Beziehung zu unterhalten, in der man sich verstanden und wertgeschätzt fühlt. EMDR ist halt auch nur eine von vielen möglichen Techniken und nicht für jedes Problem gleichermaßen effektiv.
Dunja Voos meint
Wichtig ist es immer zu unterscheiden, ob es abgrenzbare Traumen gab (z.B. Gewaltsituationen) oder ob das Trauma aus einer grausamen Atmosphäre und Einsamkeit bestand, die den Betroffenen die ganze Kindheit über begleitet hat. Da passt dann für mich das Bild der „Defragmentierung“ nicht mehr. Meine Erfahrung ist auch, dass die Worte „Trigger“ und „Retraumatisierung“ nicht immer so richtig zu der Bearbeitung schwerer Kindheitstraumata passen. Ich habe aufgrund meiner Erfahrungen auch nicht das Bild, dass sich etwas „tiefer ins Gehirn gräbt“, wie es z.B. bei dem sogenannten „Schmerzgedächtnis“ oft beschrieben wird.
Nessaia meint
Ich wollte noch hinzufügen, daß ich mein theoretisches Wissen um Traumatherapie aus den Büchern von Dr. Reinhard Plassmann habe. Er ist Nervenarzt, Facharzt für psychotherapeutische Medizin, Lehr- und Kontrollanalytiker (DPV), EMDR-Therapeut und Professor der Universität Kassel. Außerdem ist er übrigens überzeugter Psychoanalytiker, woran man sieht, daß das eine das andere nicht ausschließen muß.
Nessaia meint
Ich habe mich auch schon mit Traumatherapie und EMDR beschäftigt. Die Verfechter von EMDR sagen, daß schwer und schwerst traumatisierte Patienten (z. B. Kinder, die von Sekten mißbraucht wurden) in der Psychoanalyse retraumatisiert werden, wenn sie alle mit dem Trauma zusammenhängenden Gefühle und Sinneseindrücke noch einmal erleben. Sie meinen, daß das nichts bringe und sogar schädlich sei, weil sich die Erinnerungen an ein Trauma jedesmal, wenn sie abgerufen werden, noch tiefer ins Gehirn eingraben und dann noch leichter durch Außenreize angetriggert werden können. Es geht bei echten Traumata ja wohl hauptsächlich darum, daß die Psyche im Moment des Traumas so von Gefühlen und Reizen überflutet wurde, daß diese nicht verarbeitet werden konnten. Die Reize wurden über den Sensorischen Thalamus aufgenommen und direkt an die Amygdala, die für die emotionale Bewertung von Reizen zuständig ist, weitergeleitet, die dann wiederum direkt somatische Reaktionen wie Abwehrreaktionen, Herzklopfen, Blutdruckanstieg, usw. ausgelöst hat. Die Sensorische Rinde, der Teil des Gehirns, der normalerweise zwischen den Sensorischen Thalamus und die Amygdala geschaltet ist, und dafür da ist, die über den Thalamus hereinkommenden Reize zu bewerten, d. h. mit Bewußtsein, Wissen und Sprache zu verbinden, wird in lebensbedrohlichen Situationen bewußt übergangen, weil eine sofortige Reaktion des Körpers das Überleben sichern soll (Dr. Reinhard Plassmann). Weil das Trauma nicht über den normalen Weg verarbeitet werden konnte, werden dann oft durch bestimmte Außenreize nur bestimmte „Traumafetzen“ angetriggert, z. B. ein Gefühl von Todesangst, ohne daß damit irgend ein Gedächtnisinhalt oder Bild verbunden ist. Die einzelnen „Scherben“ des Traumas sind quasi unzusammenhängend über verschiedene Hirnregionen verteilt abgespeichert worden. Ich denke, daß für manche kleinen Traumata eine psychoanalytische Aufarbeitung sicher hilfreich sein kann, bei schwer traumatisierten Personen glaube ich aber, daß EMDR besser wirkt. Es ist mit einer „Defragmentierung“ auf der Festplatte eines Computers zu vergleichen. Was „gehirntechnisch“ bei der Verarbeitung des Traumas schiefgegangen ist, wird mit EMDR auf möglichst schnelle und schonende Weise nachgeholt. Im Gegensatz dazu hilft EMDR bei komplexen Bindungsstörungen nur sehr bedingt, weil es da primär darum geht, im zwischenmenschlichen Kontakt neue Erfahrungen zu machen.
Am besten wäre es, wenn man vor allem Traumapatienten eine Mischung aus Psychoanalyse und EMDR bieten könnte. Es wäre schön, wenn mehr Analytiker EMDR lernen und es z. B. in die Behandlung von Traumapatienten einbauen würden. Sicher ist es hilfreich, manche Dinge zusammen mit jemandem, der einen empathisch unterstützt, noch einmal wieder zu erleben, aber bei wirklich heftigen Traumata könnte ich mir vorstellen, daß sich die Betroffenen bei einem alleinigen psychoanalytischen Herangehen mehr als nötig mit schrecklichen Gefühlen herumquälen, während sie bei EMDR das Trauma nicht mal in allen Einzelheiten erinnern müssen und die traumatischen Reize, Gefühle und Erinnerungen im Gehirn trotzdem quasi einer Nachverarbeitung unterzogen werden können. Ich fände es gut, wenn nicht jeder Zweig der Psychologie immer seine eigene Methode als den allein richtigen Weg ansehen würde. Oft liegt die Wahrheit irgendwo dazwischen.