„Jetzt freu dich doch mal! Jetzt nimm‘ es doch mal anders wahr! Jetzt sieht es doch mal so!“ Gefühle lassen sich nur bedingt steuern. Subjektives Erleben ist noch viel schwerer zu beeinflussen. Manche psychisch Leidende schaffen es nicht, eine Psychoanalyse zu beginnen, weil sie schon am Telefon oder in Erstgesprächen den möglichen „Helfer“ so wahrnehmen, als sei er eine Bedrohung. Das ist dann wie ein Fluch. Wie kann so ein Patient jemals den Weg zur Hilfe finden? Wie lässt sich Erleben verändern? (Text & Bild: © Dunja Voos)
Kindheitstraumata
Caroline ist Anfang 50. Sie hat eine schwere Kindheit erlebt – eine depressive Mutter, Strafen, Alkoholismus in der Familie, sexuelle Übergriffe, das ganze Programm. Caroline macht eine Psychoanalyse. Lange hatte sie immer wieder die Vorstellung, der Analytiker könnte sie plötzlich angreifen. Sicher, diese Phantasie könnte jeder haben, wenn er auf der Couch liegt und hinter ihm jemand sitzt, den er nicht sieht. Aber Carolines Erleben schien wie eingestempelt zu sein. Sie bemerkte, wie sie den Analytiker immer wieder als unberechenbaren Angreifer erlebte, obwohl er freundlich zugewandt war. Nach einigen Monaten hätte sie doch begreifen müssen, dass sie sich bei ihm sicher fühlen kann, möchte man sagen.
Möglich ist alles
Der „Möglichkeitsraum“ verändert sich eben nicht. Auch, wenn jemand 10 Jahre lang „harmlos“ bleibt, kann er im 11. Jahr theoretisch übergriffig werden Doch Caroline vergisst dabei Eines: Auch sie selbst kann verborgene Wünsche haben. Sie selbst spürt ihre Zuneigung und sie könnte sich heimlich – oder unbewusst – einen Übergriff wünschen, weil sie kaum eine andere Vorstellung davon hat, wie man sich einander nähern kann. Caroline spürt unbewusst ihre eigene Angriffslust oder ihre eigene Sehnsucht nach Nähe. Das ist es, was ihr eben auch Angst macht. Doch dieser Teil in ihr ist ihr kaum bewusst. Indem sie Angst hat vor den Angriffen des anderen, bleibt der andere der „Böse“ und sie kann sich nach außen hin konzentrieren.
Unzählige Faktoren bestimmen das Erleben
Damit sich Carolines Erleben verändern kann, ist es wichtig, dass sie sich zusammen mit dem Analytiker die kleinsten Kleinigkeiten anschaut. Sie findet mühselig heraus, dass sie oft das Gefühl hat, sie könnte den Analytiker sauer machen. Sie findet heraus, dass der Analytiker nicht verärgert ist, auch, wenn sie ihn so erlebt – oder besser gesagt: phantasiert. Sie stellt fest, dass sie den Analytiker durch ihre innere Brille sieht. Sie denkt, er sei ärgerlich und wütend, obwohl der Analytiker sich selbst gar nicht wütend fühlt.
Manchmal ist es auch einfach unsere Erwartung, die alles komplizierter macht:
Wenn wir etwas als bedrohlich erleben, obwohl es das nicht ist, wird's kompliziert. Wie lässtsich Erleben verändern? https://t.co/yOloD7R4Fu
— Dr. Dunja Voos (@dunjavoos) April 29, 2017
Differenzieren
Langsam lernt Caroline, sich selbst und den anderen genauer wahrzunehmen. War sie sich vorher todsicher, dass sie die Gefühle des Analytikers richtig aufschnappen und deuten konnte, so lernt sie langsam, dass ihre Wahrnehmung von vielen Dingen beeinflusst wird, sodass sie getäuscht wird. Die Wahrnehmung an sich ist eigentlich immer „richtig“. Wir spüren. was „wahr“ ist. Es ist so, wie wenn wir vor unseren Augen eine Sonnenbrille oder einen Filter tragen: Dann nehmen wir die Umwelt zwar eingefärbt wahr, aber die Augen nehmen ja „richtig“ wahr – sie nehmen den Filter wahr und sehen dadurch die Umwelt in einem anderen Licht. Wenn die Betroffenen wissen, dass sie einen Filter tragen, können sie sich vorstellen, dass die Welt in Wirklichkeit anders aussieht. Aber sie können es noch nicht sehen, weil der Filter eben noch davor ist. Menschen mit einem eingeschränkten Gesichtsfeld müssen wissen, dass die Welt weiter ist, als sie sie sehen. Sie nehmen sie zwar enger wahr, aber sie können ihren Kopf noch weiter drehen.
Gemeinsam wahrnehmen
Zusammen mit dem Analytiker untersucht Caroline ihr Erleben und schaut sich die sogenannten „Mikroprozesse“ genau an, die dazu führen, dass sie plötzlich die Vorstellung erhält, der andere könnte sie unvermittelt angreifen.
Neues Erleben
Caroline geht durch eine lange Zeit der Verwirrung und Verzweiflung. Sie weiß nicht, wie es ausgehen wird. Wird sie es je schaffen, sich irgendwann einmal sicher fühlen zu können? Oft dauern diese Zeiten der Unsicherheit und Verzweiflung in einer Psychoanalyse sehr lange an und es ist nicht immer leicht, das auszuhalten.
Selbstkenntnis entspannt
Doch Caroline erlangt nach einiger Zeit ein so gutes Verständnis für ihre inneren Vorgänge, dass sie sich jetzt „ausreichend entspannt“ fühlen kann. Auch, wenn viele Spuren aus der Kindheit oder aus traumatischen Erfahrungen bleiben, so erleben viele Betroffene doch, dass sich durch genaues Verstehen auch ihr Erleben verändern kann und dass die innere, eingefärbte Brille irgendwann klarer wird. Viel ist schon gewonnen, wenn man merkt, dass der andere ja „nichts macht“, sondern einfach nur „da sitzt“ und dass viele Probleme daraus entstehen, dass unbewusste Phantasien, Gedanken, körperliche Wahrnehmungen und Gefühle ein spezielles Bild vom anderen formen. Wenn man sich selbst so bewusst wahrnimmt, wird der andere im Erleben auf einmal viel „neutraler“. Das ist ein großer Schritt zur Erleichterung. Es fühlt sich an wie eine Loslösung. Dadurch hat sich das Erleben verändert.
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Dieser Beitrag erschien erstmals am 11.3.2014
Aktualisiert am 29.4.2017
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