In die psychologische Beratung kommt eine erboste Mutter, voller Ärger. Ihr Sohn hätte dieses gemacht und jenes. Sie bräuchte dringend Rat, was sie denn mit ihm nun noch machen könnte. Sie erzählt wie ein Wasserfall und man fühlt sich sofort in die Lage des Sohnes versetzt. Man bekommt als Zuhörer direkt Mitleid mit ihm. Man möchte der Frau vor den Kopf schreien: „Siehst Du das denn nicht? Versetz‘ Dich doch mal in die Lage Deines Sohnes! Es ist doch einengend, gemein, verstörend, was Du mit ihm machst.“ (Text & Bild: © Dunja Voos)
Der Versuchung widerstehen
Unbewusst „weiß“ die Frau vielleicht, was sie tut: Sie ruft im anderen extreme Gefühle hervor, die bewirken, dass man sich innerlich sofort auf die Seite des Sohnes stellt. Man kann davon ausgehen, dass die Frau das sehr oft so macht und dass sie kaum etwas anderes kennt als den Satz: „Versetz‘ Dich doch mal in den anderen.“ Die Kunst in der Psychotherapie ist es dann, sich nicht mit dem Winde verwehen zu lassen, sondern sich immer wieder zu fragen: „Wie muss diese Frau sich fühlen, die da vor mir sitzt?“
Anstrengend
Es kann anstrengend sein, sich eben nicht gleich auf die Seite des „Opfers“ zu stellen, sondern innerlich bei der Erzählerin zu bleiben und zu versuchen, sich in ihre Lage zu versetzen. Rasch spürt man vielleicht Irritation, Hilflosigkeit, Abgestoßensein und Angst. Diese Frau hat große Angst, auf sich selbst zu schauen. Sie hat Angst, dass der andere sie anschaut und mit ihr mitfühlt. Sie wünscht es sich zwar, aber in ihrer Angst spricht sie so, dass es nur sehr schwer ist, mit ihr mitzufühlen.
Kleine Wunder
Kleine Wunder geschehen aber dann, wenn es gelingt, wirklich bei ihr zu bleiben. Wenn man es geschafft hat, eine Idee davon zu bekommen, wie es ihr geht, kann man so etwas sagen wie: „Das macht Ihnen vielleicht große Angst/das verärgert Sie/das lässt Sie sich alleine fühlen“, oder was auch immer zutreffend sein könnte. Mit diesem Einfühlen erreicht man meistens sehr viel mehr als mit dem Satz: „Versetzen Sie sich doch mal in seine Lage!“ Es ist sehr schwer, nicht vom anderen zu sprechen, sondern bei dem Hilfesuchenden zu bleiben. Meistens hilft man damit auch dem anderen am besten.
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