
Als wir uns als Babys und Kleinkinder entwickelten, konnten wir irgendwann die Abwesenheit von Mutter und Vater ertragen. Wir erreichten eine „Objektkonstanz“ – das heißt: Das Bild von Mutter und Vater (die Repräsentanz) blieb in uns stabil, auch wenn wir sie nicht mehr sahen. Auch wir Erwachsene sind voll von inneren Bildern, von „inneren Objekten“. Wenn wir an unsere Mutter denken, haben wir ein ganz bestimmtes Gefühl. Ebenso, wenn wir an unseren Vater, unseren Partner, unsere Geschwister denken. Mit jeder Person verbinden wir ein einzigartiges Gefühlsmix. Die Gefühle gegenüber dieser Person sind teilweise stabil und teilweise veränderbar. (Text & Bild: © Dunja Voos)
Die guten und die bösen Menschen in uns
Wir wissen genau, wer uns als Kind gut tat oder wer uns schadete. Der Lehrer, der uns nicht mochte, hatte einen enormen Einfluss auf uns – ebenso der Lehrer, der uns besonders mochte oder den wir besonders mochten. Innerlich sprechen wir manchmal mit unseren „inneren Objekten“ und fragen uns: „Was würde jetzt unsere Mutter/unser Vater/Mentor/Supervisor dazu sagen?“ Besonders die hinderlichen Stimmen in uns beeinträchtigen uns oft. Hatten wir eine Mutter, die alles verbot, so kann sie uns als „malignes Objekt“ auch im aktuellen Leben immer noch beeinflussen. Die innere Stimme der Mutter verbietet uns vielleicht Dinge, obwohl wir mit über 30, 40 oder 50 Jahren doch längst innerlich eigenständig sein wollen. Die inneren Objekte behalten ihren Einfluss, doch wir können uns mit ihnen auseinandersetzen und sie kennenlernen.
Innere Objekte können verderben

Wenn wir eine Mutter oder einen Vater hatten, die Gewalt auf uns ausübten, dann hatten wir in uns ein ganz bestimmtes Bild von ihnen, wenn sie nicht da waren. Wir erinnerten uns an die Gewalt und fragten uns: „Wann kommt der nächste Angriff?“ Solch ein inneres Objekt ist wie „verdorben“, es ist ein „böses“ inneres Objekt. In einer Psychoanalyse merkt man an den Wochenenden manchmal, wie der Analytiker innerlich „verdirbt“ und zum „Bösen“ wird. Man überträgt dann vielleicht das Bild von der bösen Mutter/dem bösen Vater auf den Analytiker. Wenn man gewalttätige Eltern hatte, sind diese in der Erinnerung ja wirklich „böse“. Wenn man als Kind seine unberechenbaren Eltern ein Wochenende lang nicht sah, fürchtete man sich vor der Rückkehr und dann vor ihren bösen Seiten. Waren die Eltern in der Realität beim Wiedersehen gut drauf, kam erst einmal die Erleichterung. Doch man musste immer gewappnet sein.
Die Abwesenheit selbst verunsichert
Doch auch wenn Mutter und Vater gut waren, haben wir ihre Abwesenheit vielleicht manchmal so schmerzlich empfunden, dass sie innerlich zu „bösen Objekten“ wurden, einfach, weil sie nicht da waren. Wir kennen das: Manchmal haben wir vor der Begegnung vor einem Menschen Angst, halten ihn für „böse“ und kaum öffnet er uns die Tür, wechselt unser Gefühl hin zum Positiven. In der Realität sehen wir dann, dass der andere eben nicht „böse“ ist. Vorher in unserer Phantasie hatten wir uns jedoch etwas anderes ausgemalt. Es hat eine Übertragung stattgefunden.
James Grotstein schreibt in „A Beam of Intense Darkness“ (Karnac 2007, S. 240): „The analysand is hard put to hold on to the image of the benevolent analyst (good breast-object), the place of which seems to be usurped by the bad object (Bion’s concretized „no-thing“). How does vacancy of the good object spontaneously (at least at the beginning of analysis), inexorably, and ineluctably result in the appearance of the bad object?“
„Es fällt dem Analysanden schwer, sich das Bild vom guten Analytiker zu bewahren. Durch seine Abwesenheit entsteht eine Leerstelle. Sie wird gefüllt durch ein schlechtes Objekt (Bion’s konkretisiertes „No-Thing“). Wie kann es passieren, dass die Lücke, die das gute Objekt hinterlässt, spontan und unvermeidlich durch das Auftauchen eines bösen Objektes gefüllt wird?“
Grotstein schreibt, dass die Kleinianer es sich so erklären, dass der Analysand den Analytiker dafür hasst, dass er ihn am Wochenende alleine lässt. Der Analysand fühlt sich verlassen, hasst den Analytiker dafür, sodass dieser „verdirbt“.
Grotstein selbst sagt, dass der infantile Teil des Analysanden wieder zum Vorschein kommt und dann verletzlicher gegenüber dem Auftauchen von „O“ ist. Der Analysand ist überfordert, die Abwesenheit des Analytikers zu ertragen. Die Abwesenheit des Analytikers macht sozusagen eine innere Lücke. Der Analysand füllt diese Lücke auf, indem er da konkret das Bild eines „bösen Analytikers“ hineinsetzt (S. 241).
Übertragungen in der Psychoanalyse: es gibt gute und negative Übertragungen
Gerade in einer Psychoanalyse können wir immer wieder erleben, was wir innerlich mit dem Analytiker machen oder besser gesagt: was mit dem Analytiker innerlich – oft gegen unseren Willen – passiert. In der Analyse fühlen wir uns oft wieder so, wie wir uns als Kinder gefühlt haben. Der Psychoanalytiker erzeugt dieses Gefühl in uns, so scheint es. Wenn wir dann im selben Gefühl sind wie damals, erscheint uns auch der Analytiker als „böse“. Selbst, wenn wir den Analytiker vorher als „gut“ in unserem Kopf und in unseren Gefühlen gespeichert hatten, kann er innerlich „böse“ werden, wenn wir uns wieder so schlecht fühlen wie damals: Der gute Analytiker in uns, die gute Person, „versauert“.
Wenn wir genau fühlen, wie wir uns fühlen und merken, dass es altbekannte Gefühle sind, die vielleicht völlig unabhängig von der Person sind, die uns jetzt gegenüber steht, dann können wir uns aus der Übertragung lösen. Dann kann der andere wieder „gut“ werden.
Kommt ein Neuer hinzu, verdirbt der Alte
Manchmal „versauert“ auch ein inneres Objekt in uns, wenn andere Objekte hinzukommen. Da ist man jahrelang glücklich verheiratet und lernt eine neue Frau/einen neuen Mann kennen. Prompt erscheint der alte Partner viel schlechter, während der Neue glänzt. Wenn wir zerstrittene Eltern hatten, mussten wir uns gut überlegen, wie wir mit unserer Liebe umgingen: Liebten wir Papa, konnten wir die Liebe der Mama verlieren, liebten wir Oma, konnten wir vielleicht ebenfalls die Liebe der Mama verlieren. Allein, weil wir jemand Drittes liebten, versauerte quasi der Zweite in uns. Es schien vielleicht, als dürften wir den Anderen nicht lieben, um die Liebe des Einen nicht zu verlieren. Ein inneres Objekt kann also dann „versauern“, wenn ein neues, „besseres“ Objekt hinzu kommt.
Es scheint manchmal, als würden unsere inneren Objekte ein Eigenleben führen.
Mehrere Personen innerlich unter einen Hut bekommen
Je nachdem, wie wir groß wurden und was wir erlebten, kann es uns jedoch gelingen, mehrere Menschen in uns emotional zu halten. Damit fühlen wir uns zufrieden. Zu fühlen, dass man Mutter und Vater ohne schlechtes Gewissen gleichzeitig lieben kann, dass man seine Geschwister, Freunde oder Kinder mehr oder weniger gleichermaßen liebt, macht glücklich. Manchmal glauben wir, das Leben sei wie eine unausgeglichene Waage: Immer muss einer oben und ein anderer unten sein. Aber das ist kein Naturgesetz. Es gibt auch Ausgeglichenheit: Wir mögen unseren linken Arm genauso wie den rechten und das linke Bein wie das rechte, wir mögen unsere Arme und Beine, weil wir jedes Körperteil nutzen und weil die Körperteile zusammenspielen. So ausgeglichen kann auch die innere Welt aussehen. Manchmal kämpfen wir darum und manchmal wird die innere Welt mit ihren inneren Objekten von selbst ruhig wie ein See.
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Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 31.10.2016
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