Alexithymie ist die Unfähigkeit, Gefühle wahrzunehmen und zu beschreiben. Manchmal überdecken körperliche Beschwerden die eigentlichen Gefühle: Es gibt ein „Symptom“, aber es fehlt die „Emotion“. Das Wort „Alexityhmie“ leitet sich aus dem Griechischen „lexis“ = „das Lesen“ und „thymos“ = „das Gefühl“ ab. Die Vorsilbe „A-“ verneint das Nachfolgende. Wörtlich ist „Alexithymie“ also die Unfähigkeit, Gefühle zu lesen.
Allein und überfordert mit eigenen Gefühlen
Viele Kinder können ihre Gefühle nicht kennenlernen, weil sie keine Mutter (oder andere Bezugsperson) hatten, die ihre Gefühle anschaute, aufnahm, verstand, verarbeitete, spiegelte und zurückgab. So wurde es schwierig für die Betroffenen, eigene Gefühle wahrzunehmen und zu benennen. Gesicht und Augen sind da besonders wichtig, doch natürlich können auch Blinde über Stimme und Körperspannungen Gefühle mit der Mutter austauschen und so ihre Gefühle kennenlernen. Manche Kinder hatten also erst gar keine Chance, ihre Gefühle kennenzulernen. Andere Kinder können ihre Gefühle sehr gut wahrnehmen und möglicherweise auch benennen, aber sie verdrängen diese Gefühle. Sie sagen, sie fühlten einfach nichts.
Gefühle wurden verhindert oder verdrängt
Gewalterfahrungen bringen Gefühle durcheinander. Traumatisierte Menschen verdrängen viele Gefühle ganz bewusst. Doch auch Nicht-Beachtung, Vernachlässigung und fehlende emotionale Verfügbarkeit der Mutter wirken traumatisch. Es sind sozusagen „leise“ oder „stumme“ Traumata. Entsprechend wirken diese Menschen oft gefühlskalt, wie mechanisch. Sie sind unglücklich und sagen: „Komisch, dabei war zu Hause nichts. Meine Eltern haben mich noch nicht mal angeschrien oder geschlagen.“ Viele Menschen erleben auch beides: Gewalt und Nicht-Beachtung im steten Wechsel, wobei eine Gewaltanwendung ja auf eine gewisse Art auch mit „Nicht-Beachtung“ einhergeht.
Der Begriff „Alexithymie“ wurde von dem Psychoanalytiker John Case Nemiah (1918-2009) und als Erstes von dem Psychiater Peter Emanuel Sifneos (1920-2008) im Jahr 1972 geprägt (Harvard gazette).
Der Psychoanalytiker Pierre Marty (1918-1993) führte hier die Begriffe „Pensée opératoire“ (1963) und „Dépression essentielle“ (1990), leere Depression, ein.
(Samir Stephanos (IPA): Trauma und Versöhnung – über die Grenzen der Analysierbarkeit. www.wolfgang-loch-stiftung.de/documents/JB%2055_WL_Stephanos.pdf, Jahrbuch der Psychoanalyse 55, Verlag frommann-holzboog, 2007, S. 37-55).
Im Zusammenhang mit der Alexithymie findet man auch die Begriffe „Pensée opératoire“ und „Dépression essentielle“: Der Begriff „Pensée opératoire“ „bezeichnet ein mechanistisches, also prä-neurotisches Denken, bei dem es nur Funktionalität gibt. Die Franzosen sprechen von le factuel – Phantasien und Gefühle fehlen. Die dépression essentielle, die sich von der pensée opératoire ableitet, ist ein Zustand von inhaltloser Depressivität und unterscheidet sich von der klassischen Depression.“ (Samir Stephanos, 2007)
Fühlen und Benennen
Wenn wir ein Gefühl spüren, ist es das Eine, diesem Gefühl den „richtigen“ Namen zu geben. Oft handelt es sich ja um komplizierte Gefühlsmischungen oder Zustände, die sich kaum einordnen oder benennen lassen. Gefühle wahrzunehmen und mit ihnen umzugehen, kann besonders auch dann problematisch sein, wenn wir uns durch eine strenge Erziehung (Dressur) nicht erlauben konnten, aggressive Gefühle zuzulassen.
Schmerzen werden tot gemacht
Es kann auch sein, dass wir nach schlimmen Erlebnissen Schwierigkeiten haben, seelischen Schmerz zu spüren, weil es uns so gut gelingt, unseren Schmerz vordergründig „auszuschalten“. Gut, dass der Mensch zu so etwas in der Lage ist. Wenn die Gefahr jedoch vorüber ist und der Mechanismus so weiterläuft, kann das zu psychischem Leiden führen: Ängste, Zwänge, Arroganz (siehe Narzissmus) oder Aggressionen können die Folge sein.
Wer nichts fühlt, für den wurde nie gefühlt
Es ist auch möglich, dass die Mutter unfähig war, ihr Baby zu spiegeln und sich affektiv auf ihr Baby einzustimmen, sodass das Kind nie seine Gefühle kennenlernen konnte. Auch das Mentalisieren – also das Nachdenken über sich und andere – ist traumatisierten Kindern oft kaum möglich, weil sie sozusagen ihr Wissen und ihre Denkfähigkeit ausschalten, um nicht mit der schrecklichen Wahrheit konfrontiert zu werden. Vordergründig sagen die Betroffenen, dass sie nichts fühlen und auch nicht „denken“ können. Im Schutz einer Psychoanalyse oder psychoanalytischen Therapie wagen es jedoch viele Patienten, sich ihre Gefühle zu gestatten und sie neu kennenzulernen.
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- Schizoide Persönlichkeitsstörung
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- Missbrauchte Kinder können teilweise nur schlecht mentalisieren
Literatur:
Matthias Franz:
Vom Affekt zum Mitgefühl:
Entwicklungspsychologische und neurowissenschaftliche Aspekte der emotionalen Regulation am Beispiel der Alexithymie.
PDF
Samir Stephanos:
Trauma und Versöhnung – über die Grenzen der Analysierbarkeit.
Jahrbuch der Psychoanalyse 55, Verlag frommann-holzboog, 2007, S. 37-55
www.wolfgang-loch-stiftung.de/documents/JB%2055_WL_Stephanos.pdf
Dieser Beitrag erschien erstmals am 28.7.2007
Aktualisiert am 12.11.2016
Dunja Voos meint
Liebe Melinas,
vielen Dank für Ihre Anregungen! Ich habe daraufhin meinen Beitrag erweitert. Vielleicht gehen ja jetzt ein paar Antworten aus Ihren Fragen hervor. Kinder schalten in traumatischen Situationen ihr Fühlen, ihre Schmerzen und ihre Denkfähigkeit ab. Später können sie oft zumindest ihr Denken wieder „einschalten“. Der Psychoanalytiker Harold Searles (1918-2015), der mit Psychotikern arbeitete, sagte, dass auch die kränkeste Mutter noch gesunde Anteile hatte. Daher kann es sein, dass Sie trotz aller Qualen dennoch die entscheidenden psychischen Fähigkeiten ausreichend von ihrer Mutter/Bezugsperson mitbekommen haben (z.B. intuitiv im Säuglingsalter).
Dunja Voos meint
Liebe Conny,
ich denke, dass eine Psychoanalyse hier oft helfen kann. Wenn man seinen Psychoanalytiker fast täglich sieht, ist er wie ein „Begleiter“ oder „Coach“, wie Sie es nennen. Er wird nachträgliche zum Zeugen für das Geschehene. In der Psychoanalyse kann der Patient tatsächlich Erlebtes innerlich wiederholen. Eine warmherzige Atmosphäre erleichtert es meistens, die Gefühle wiederzubeleben.
Und ich sehe es auch wie Sie: Der Psychoanalytiker kann dem Patienten gut helfen, wenn er nachfühlen kann, was der Patient fühlt. Daher ist die Lehranalyse in der Psychoanalyse-Ausbildung ja auch so enorm wichtig. Der Analytiker „kennt“ oft die Gefühle, die der Patient hat. Zwar aus anderen Zusammenhängen, aus Erfahrungen in seinem eigenen Leben, aber er kann da mitschwingen. Und er konnte diese Gefühle in der eigenen Lehranalyse bearbeiten. In diesen Fällen fühlt sich der Patient besonders verstanden. Diese Situationen tragen sehr zur Veränderung bei.
Melinas meint
Hallo Conny,
das ist sehr interessant. Ich grübelte zuerst lange darüber nach über das Mentalisieren, das in diesem Artikel erwähnt wird. Da fielen mir Widersprüche bei mir auf.
Wenn mentalisieren tatsächlich das Nachdenken über sich selbst und andere ist – wie beschrieben und gleichgesetzt wird mit dem Manko Gefühle zu spüren….dann stimmt für mich da irgendetwas nicht. Denn ich bin ein Prototyp der in der Kindheit nichts gespürt hat (trotz täglicher Misshandlung und Erniedrigung) ich spürte nicht einmal die körperlichen Schmerzen, die heftig waren – mit Brüchen und blutunterlaufenen Stellen, von den seelischen ganz zu Schweigen….Allerdings kann ich heute 50 Jahre etwa nach diesen Misshandlungen behaupten, dass ich äußerst fähig bin über mich und andere Nachzudenken. (Allerdings stimmt es, dass ich dies bis 17 Jahre nicht konnte und ich selbst immer von mir behauptete, dass ich bis dahin ein Tierchen war). Also was hat mich geheilt???? dass ich mit 17 plötzlich über mich und andere nachzudenken anfing. Ich hatte noch keine Therapie zu diesem Zeitpunkt und lebte nach wie vor unter schlechten Bedingungen – nämlich im Heim, hatte keine „einfühlenden Gegenübers“.
Ich würde das gerne besser verstehen Frau Voos. Haben Sie eine Antwort für mich?
Was mir bei dem Thema auffällt ist, dass ich mich inzwischen äußerst gut in Gelegenheiten einfühlen kann, die mit Natur, leidenen Tieren und Menschen, Ungerechtigkeiten, Ausgrenzungen etc… zu tun haben, also alles was ich einmal selbst erlebt habe.
Im Umkehrschluß würde das vielleicht tatsächlich heißen, dass Du Conny recht hast und ein Analytiker bzw. Therapeut sich nur wirklich einfühlen kann, wenn er gleiche Erfahrungen gemacht hat.
LG
Conny meint
Hallo,
nach meiner Erfahrung ist es fast unmöglich, in einer Therapie Gefühle zuzulassen.
Wer wie ich in der Kindheit die physischen und psychischen Emotionen abspalten musste, um das alles zu überleben, der weiß gar nicht, was Gefühle sind.
Theoretisch brauchen diese Menschen Begleiter/Coachs, um diese „Kindheit“ zu wiederholen, mit Erklärungen. So wie man Kindern erzählt, wie Farben zu benennen sind, so ist diesen Erwachsenen zu erklären, wie Emotionen zu benennen sind und wie sie sich anfühlen.
Gefühle kann man nicht zulassen, die man nicht kennt, und nicht fühlt.
Nach meiner Auffassung und Erfahrung tun sich Therapeuten/Psychologen schwer, das nachzuvollziehen, v.a. emotional zu verstehen.
Was ein Heilkundiger (Arzt, Therapeut etc.) nicht emotional versteht, kann er niemals richtig erfolgreich behandeln.
VG.