„Es ist egal, was ich mache, wo ich gehe und stehe, was ich arbeite oder mit welchen Freunden ich mich unterhalte: Immer läuft ein Gedankenband im Hintergrund mit, das mir sagt: Du willst ja gar nicht mehr leben. Wie soll ich das bloß aushalten? Ob der andere das bemerkt, was in mir vorgeht?“ In seelischer Not können wir manchmal nicht anders, als ständig unsere quälenden Gedanken umherzuwälzen. Man kann diese quälenden Gedanken vielleicht mit einem Ohrgeräusch (Tinnitus) vergleichen: Auch der Tinnitus lässt oft nicht nach – egal, was man macht. Je mehr in der Welt da draußen etwas anderes besprochen oder gemacht wird, desto lauter werden die inneren Gedanken. Sie wollen raus. (Text & Bild: © Dunja Voos)
Keine Lösung in Sicht
Man will sich zwar mitteilen und doch befürchtet man, es könnte niemand verstehen. Alle anderen scheinen so normal zu leben und diese Qualen nicht zu kennen. Das Sprechen über dieses innere Gedankenband würde alles nur schlimmer machen, so die Befürchtung. Selbst in einer Psychoanalyse, in der man als Patient immerzu redet (oder auch schweigt), kommt es vor, dass das Gedankenband sozusagen „unterirdisch“ („unter-hirnisch“) mitläuft.
Die Hoffnung geht zeitweise verloren
Oft ist der innere Druck so groß, dass die Vorstellung und Hoffnung verloren geht, es könnte Hilfe geben. Manche Betroffene leiden nur an schlechten Tagen darunter, andere haben das Gefühl, dass sie seit vielen Jahren den Großteil der Zeit mit quälenden Gefühlen und Gedanken verbringen. Oft sind es immer dieselben Gedanken und Gefühle. Doch manchmal hilft es bereits, einfach festzustellen, dass es so ist. Und Worte dafür zu finden, wie das ist: „Egal, was ich mache, tue, sage oder unternehme: Immer kreisen in meinem Kopf die quälenden Gedanken und immer drückt mich dazu so ein Gefühl nieder.“ Vielleicht hilft es auch, einen Namen dafür zu finden, zum Besipiel „Gedanken-Tinnitus“.
Benennen und beschreiben
Dann kann man versuchen, es näher zu beschreiben: Was ist das dazugehörige Gefühl? Wie sieht es aus und wo sitzt es im Körper? Was soll unterdrückt werden? Was wäre das Gegenteil von dem Gedachten? Oft hat man Gedanken, die man zwar irgendwie denkt, aber man käme nie auf die Idee, diese auch auszusprechen. Das sind dann oft „vorbewusste“ Gedanken, also Gedanken, die schon auf der Schwelle zum Bewusstsein stehen, aber noch nicht den Weg über die Lippen zum Ohr eines anderen finden.
Hab‘ Dich!
Den quälenden Gedanken zu erfassen ist für viele schon ein riesiger Schritt. Und dann? Wenn man es der Freundin erzählt („Ich habe Angst vor dem Tod, vor der Unednlichkeit, vor dem unlösbaren Problem XY“), hat man das Gefühl, dass es danach oft nicht besser ist. Freundinnen wollen beruhigen und reden dagegen an („Sieh‘ es doch mal so und so.“). Innerlich spürt man dann, dass der eigene Gedanken- und Gefühlsdruck dadurch wächst. Nach dem Kaffeetrinken zu Hause angekommen denkt man: „Das erzähle ich nie wieder.“
Die Psychoanalyse ist eine Gelegenheit, diesen Gedanken Raum zu geben
Viele Betroffene finden im Laufe einer Psychoanalyse Erleichterung. Diese Erleichterung kann recht schnell kommen oder sich erst nach mehreren Jahren einstellen. Der „Gedanken-Tinnitus“ im Hintergrund kann zeitweise stärker sein und sich dann wieder abschwächen, ohne dass man vielleicht Zusammenhänge erkennt („Gerade in der Nacht, als ich mich besonders glücklich fühlte, kamen diese quälenden Gedanken und niederdrückenden Gefühle zurück“). In einer Psychoanalyse ist es dann oft so, dass der innere quälende Gedanken-Tinnitus nachlässt, ohne dass man sagen kann, wann und wie genau. Man spürt einfach: Es wird anders. Je mehr man wieder fühlen kann, desto weniger muss man sich mit Gedanken quälen. Wenn die Lebensumstände und die Beziehungswelten sich ändern, dann kann der Gedanken-Tinnitus schwinden wie der Nebel am frühen Morgen.
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Melande meint
Mir ist in meiner Kindheit und Jugend eingeimpf worden: Du bist nicht normal. Eine sehr sehr seltene Fettstoff- bzw. Fettabbaustörung (partielle Lipodystrophie, nicht genetisch bedingte Form) hatte im Alter von 7 Jahren bewirkt, dass mein normal rundlicher Oberkörper abgemagert ist. Ich hatte damals nie einen Menschen, mit dem ich über das von außen in mich eingepflanzte Minderwertigkeitsgefühl sprechen konnte. Auch wußte niemand eine Ursache für die körperliche Veränderung, erst mit Anfang 30 hab ich die Diagnose in einer Uni-Klinik bekommen.
Gedanken, wie ich wohl auf andere wirke, wie sie mein Aussehen beurteilen, ob ich „abstoßend“ aussehe, laufen „im Hintergrund immer mit“, von einer dicken Verdrängungsschicht umhüllt. Therapeuten habe sich nicht (genug) in mich eingefühlt/einfühlen können. Es ging immer schnell um andere Themen. Eine ausreichend hilfreiche Therapie habe ich trotz vielfältiger Versuche nicht gefunden.
Jetzt mit 65 lebe ich allein, oft einsam, mit manchmal großer körperlicher Schwäche und Müdikeit. Ärzte sind für mich ein „rotes Tuch“ geworden, sie können mit mir und meinen Beschwerden nichts anfangen. Ich tu mir deren Ignoranz nicht weiter an, gehe nicht mehr zu ihnen. Ich bin inzwischen stark geworden im Aushalten von körperlichen und seelischen Beschwerden und Schmerzen.
Eine so wunderbare psychoanalytische Therapie, wie sie mir beim Lesen dieses Blogs durch die schönen und wohltuenden Zeilen durchscheint, gibt es hier nicht, und ich habe auch nicht das Geld, irgenwo hinzufahren.
Aber ich resigniere trotzdem nicht. Jeder Tag, jeder Augenblick kann etwas Neues, etwas Erleichterndes, etwas Freudvolles bringen!
Danke für Ihre Worte, Frau Dr. Voos.
Liebe Grüße
Melande