In kurzen oder Verhaltenstherapien erleben Patienten manchmal, dass sie Fragebögen ausfüllen müssen: Vor und nach der Therapie sowie nach einer bestimmten Sitzungsanzahl gibt der Therapeut dem Patienten Fragebögen zum Ankreuzen. So kann man teilweise den Fortschritt einer Therapie messen. In einer Psychoanalyse ist so ein Vorgehen jedoch kaum möglich. Denn die Psychoanalyse lebt von der Atmosphäre, von dem Raum, der zwischen Patient und Analytiker entsteht. Das fängt schon damit an, dass der Analytiker genau darauf achtet, was in in der ersten Begegnung zwischen ihm und dem Patienten geschieht.
Der erste Eindruck bleibt wichtig
„Die grau gekleidete Frau Anfang 50 kam auf mich mit gebeugten Schultern zu. Sie suchte erst einmal zwanghaft und ausgiebig nach einem Taschentuch in ihrer Handtasche, bevor sie sich setzte. Sie konnte mich kaum anblicken und reichte mir zur Begrüßung eine schlaffe Hand.“ So könnte ein Psychoanalytiker die erste Begegnung mit seinem Patienten darstellen. In Supervisions- und Intervisionsgruppen besprechen Analytiker, was sie bei der Begegnung mit dem Patienten empfunden haben. Dabei kommt es auf die kleinsten Bewegungen, Gesten und Worte an. Dieser Prozess sollte nicht gestört werden.
Das szenische Verstehen ist auf Ungestörtheit angewiesen
In der Supervisionsgruppe sagen andere Analytiker, was ihnen zu dieser Szene einfällt. Das „szenische Verstehen“ dient oft schon der Diagnostik ganz am Anfang. Der Analytiker möchte den Patienten verstehen wie eine Mutter ihr Kind. Dabei gibt es immer wieder lange Strecken des Nicht-Verstehens, die ausgehalten werden wollen. Doch Analytiker und Patient bewegen sich da psychisch in Räumen – in Phantasien, in Begegnungen, im Schweigen, im Traum, in Stimmungen und Atmosphären, die sich kurzzeitig aufbauen und wieder abflauen.
Der Fragebogen zerstört den Raum
Wichtig ist es, zu schauen, was passiert. Neugierig kann der Analytiker sehen, hören, riechen, was der Patient ihm vermittelt. Und umgekehrt: Auch der Patient untersucht den Analytiker auf’s Genaueste. Schwerst traumatisierte Patienten testen erst einmal, wie die Luft beim Analytiker so ist. Wie spricht er, schaut er, atmet er, bewegt er sich? 1000 kleine Mini-Antennen nehmen alles sorgsam auf. Wenn nun in dieses Geschehen der Analytiker kommt und sagt: „Ich habe hier einen Fragebogen für Sie – lassen Sie uns schauen, wie die Therapie fortschreitet“, dann ist es, als würde man mit einer Nadel in einen Ballon stechen. Der schöne Raum, der sich aufgebaut hat, ist zerstört. Es ist ähnlich als würde beim Geschlechtsverkehr das Telefon klingeln oder als würde jemand ins Badezimmer linsen, während man auf der Toilette sitzt.
Patienten und Analytiker machen sich Gedanken
Die Patienten, aber auch der Analytiker, machen sich ständig Gedanken: War es in Ordnung, was ich heute gesagt habe? Wie ich es gesagt habe, wann ich es gesagt habe? Wie ist die kleine Peinlichkeit entstanden? Wodurch hat sich Erleichterung eingestellt? Solche Fragen und Gedanken halten die Therapie am Laufen. Fortschritte lassen sich in der Psychoanalyse nur ganz subtil feststellen. Ein Patient stellt erleichtert fest, dass ihm Dinge nicht mehr unangenehm sind, die ihm früher unangenehm waren. Er kann noch nicht mal sagen, wann sich dieser Fortschritt eingestellt hat. Es war auch kein bewusstes Ziel der Therapie. Aber der Patient stellt es fest und ist erleichtert.
Fragebögen treffen nicht die Realtität des Patienten
Wer in der Psychoanalyse ist, würde vielleicht streckenweise sagen: Die Lebensqualität hat sich verschlechtert, die Sorgen sind größer geworden, ich muss öfter weinen, fühle öfter den Schmerz über den Verlust meines Partners. Und dennoch würde der Patient seine Analyse als gut und fortschrittlich bezeichnen. Der Patient, der auf einmal wieder Schmerzen spüren kann, hat sich entwickelt.
„Ich könnte mich umbringen – und das ist gut so“
Fortschritte in der Psychoanalyse sind nicht so messbar, wie Fragebögen es gerne messen würden. Zum Beispiel gibt es Patienten, die sich nicht umbringen würden, weil sie Angst haben, dass sie dann auf ewig verdammt wären. In ihrer Vorstellung gibt es gar keine Erlösung, noch nicht einmal den Tod. Das ist unsagbar quälend. Für viele ist es eine große Erleichterung, wenn sie langsam die Vorstellung von Ruhe und Endlichkeit bekommen. Der Tod könnte wenigstens in der Vorstellung ein entlastendes Ende sein. Der Gedanke, in der Not sein Leben gut beenden zu können, ist ein gesunder innerer Ausweg. Wenn also im Fragebogen jemand vor der Therapie ankreuzte, Selbsttötung wäre für ihn keine Lösung, dann kann es ein Fortschritt sein, wenn er nach der Therapie ankreuzt, dass es für ihn eine denkbare Lösung wäre. Aus Fragebogen-Sicht hätte sich hier der Zustand des Patienten verschlechtert.
Normales Leid soll nicht verhindert werden
Jeder Patient hat hochspezifische, eigene Themen. Darum wehren sich so viele Analytiker gegen systematische Untersuchungen mithilfe von Fragebögen. Sie sagen so furchtbar wenig aus und stören die Beziehung zwischen Analytiker und Patient. Fortschritt in der Psychoanalyse ist etwas ganz anderes als Fortschritt anderswo. Die Psychoanalyse wandelt die namenlosen Qualen des Patienten in „normales Leid“ um, das der Patient von nun an in Worte fassen und mit anderen teilen kann.
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Dunja Voos meint
Buchtipp als Zusatzinformation zum Kommentar von Horst Kaechele:
Gerald Poscheschnik (Hrsg.):
Emprirische Forschung in der Psychoanalyse.
Grundlagen, Anwendungen, Ergebnisse.
Psychosozial-Verlag, 2005
Rezension von Professor Arnold Langenmayr, Universität Duisburg-Essen, auf socialnet.de
Kaechele Horst meint
Schade dass die Verfasserin anscheinend sich noch nie mit empirischer Forschung zur Psychoanalyse beschäftigt hat!
H. Kaechele