„Das muss ich jetzt erstmal verdauen“, sagen wir, wenn wir etwas Überwältigendes erlebt haben. „Was soll ich mit diesem Gefühl jetzt machen?“, fragen sich viele Patienten in der Psychotherapie. Der Therapeut kann dabei helfen, die eigenen Gefühle zu verdauen, so, wie eine Mutter es bei ihrem Säugling macht. Die Gefühle, die der Säugling seiner Mutter zeigt, nimmt die Mutter auf. Sie dient dem Säugling praktisch als „Vormagen“. Der Säugling schreit und kann sich kaum beruhigen. Die Mutter nimmt ihn auf, schaut ihn an und sagt beruhigend: „Oh mein Kleines“. Damit mildert sie die überwältigenden Gefühle des Säulings ab.
Die Mutter zerkleinert zu große Gefühlshappen in kleine Häppchen
Wenn die Mutter ihr kleines Kind tröstet, passiert Ähnliches: Das Kind kommt mit einem übergroßen „Happen“ an Angst, Wut, Schmerz oder auch Freude. Die Mutter sagt oder denkt: „Oh, du bist ganz schön aufgebracht. Komm, wir setzen uns – gleich wird es dir wieder besser gehen.“ Der Psychoanalytiker Wilfred Bion sprach von Alpha- und Beta-Elementen. Was das kleine Kind an unsortierten, überwältigenden Gefühlen spürt, nannte er Beta-Elemente. Die Mutter verwandelt diese zu großen psychischen Happen in Alpha-Elemente, also in reifere Gefühle, die für das Kind handhabbar werden.
Wir finden etwas zum Kotzen
Wenn uns etwas zu viel wird, dann finden wir es zum Kotzen. Schönes hingegen kosten wir aus. Liebe geht durch den Magen. Auf Problemen kauen wir herum. Emotionaler Mangel führt zu Schokoladen-Hunger. Und wenn wir uns besonders ärgern, sagen wir: „Das ist mir scheißegal.“ Der „seelische Apparat“ verfährt mit psychischen Eindrücken, sinnlichen Wahrnehmungen, Gefühlen und Erlebnissen ähnlich wie der Magen-Darm-Trakt mit der Nahrung. Er verarbeitet und verdaut es.
Angst vor der Vergiftung
Insbesondere Menschen mit psychotischen Ängsten beschäftigen sich oft intensiv mit der Nahrung. Sie haben sehr oft Angst, vergiftet zu werden. Dabei mischen sich die Ängste: Teilweise befürchten sie, die Nahrung könnte tatsächlich verdorben oder vergiftet sein, teilweise haben sie aber auch das Gefühl, dass nahe Bezugspersonen wie der Vater/die Mutter/der Therapeut „toxisch“ (= vergiftend) wirken. Sie wollen nichts vom anderen „aufnehmen“, weil sie befürchten, es könnte ihnen schaden.
Magersucht
Auch bei der Magersucht vermischen sich die Ängste. Die Betroffenen fragen sich: Was möchte ich in meinen Körper reinlassen? Was möchte ich in meine Psyche reinlassen? Welches Nahrungsmittel ist gut? Welcher Mensch tut mir gut? Der körperliche Abgrenzungsversuch („Ich esse nichts mehr“) ist oft gleichzeitig ein Versuch, sich psychisch abzugrenzen („Niemand kann mir etwas sagen – ich bestimme selbst über mich!).
Verdauung braucht Zeit
Ähnlich wie der Magen-Darm-Trakt zur Verdauung, so braucht auch die Psyche Zeit, um Erlebtes zu verarbeiten. Manchmal kauen wir auf dem Erlebten immer wieder herum und es fällt uns schwer, es zu verdauen. „Da musste ich ganz schön schlucken“, sagen wir, wenn wir mit etwas konfrontiert werden, was uns zu viel ist. Quält uns unverdauter Kummer, sagt die Freundin: „Na spuck’s schon aus – was ist los?“
Reizdarmsyndrom
Menschen mit einem Reizdarmsyndrom leiden oft an dem Gefühl, aus einer Situation fliehen zu wollen. Auch hier mischen sich psychische Ängste und körperliche Reaktionen. Wer eigentlich weglaufen will, aber nicht wirklich weglaufen darf – zum Beispiel bei einem wichtigen Termin – der flüchtet sich wenigstens auf die Toilette. Das ist dann ein Kompromiss, denn das ist noch halbwegs gesellschaftlich akzeptiert. Die psychische Bedrängnis wird man damit aber nur teilweise los.
Träumen ist Verdauen
Nachts, wenn wir wild träumen, dann erscheinen uns oft „Tagesreste“ im Traum. Was uns zu viel war, verdauen wir im Traum. In Ruhephasen können wir nachdenken und verarbeiten. Wenn wir etwas psychisch zumindest angedaut haben, dann können wir darüber sprechen. Wir können dann etwas „von uns geben“, zum Beispiel in Form einer Geschichte.
Verwandte Artikel in diesem Blog:
Schreibe einen Kommentar