Das kleine Mädchen liebt es, sich wie die Mutter anzuziehen und zu schminken. Im Kleidchen fühlt sich das Mädchen wunderschön und träumt davon, groß zu sein und einmal zu heiraten. Mädchen identifizieren sich mit der Mutter und mit anderen weiblichen Vorbildern – der Kindergärtnerin, der Musiklehrerin, der Klassenlehrerin. Das passiert oft wie von selbst und ist für die meisten Mädchen ein schönes Spiel.
In der Pubertät wird aus Spiel oft Ernst
In der Pubertät kommt es dann ernsthaft zu der Frage: „Wie will ich sein?“ Das Mädchen wird vielleicht unzufrieden mit sich selbst und gerät in viele Kämpfe mit der Mutter. Die Mutter ihrerseits kann neidisch werden auf die Tochter. Wie im Märchen „Schneewittchen“ fragt sie sich: „Wer ist die Schönste im ganzen Land?“ Sie muss hinnehmen, dass ihre Tochter jünger, vielleicht gesünder, hübscher, beweglicher, vielleicht gebildeter, zufriedener und kraftvoller ist. Das schmerzt die Mutter. Wird ihr Neid zu groß, will sie unbewusst manchmal verhindern, dass sich die Tochter gut entwickelt.
„Warte erst mal ab, bis Du groß bist!“
„Ich bin hier die Mutter!“, versichert sich die Mutter ihrer selbst. „Warte erst mal ab, bis du selbst Kinder hast, dann siehst du, wie schwer das alles ist.“ Die unzufriedene Mutter sorgt dafür, dass sie das Kind „klein“ hält, auch, wenn es schon erwachsen ist. Dem Mädchen erschwert sie damit die Identifikation mit ihr. Vor allem dann, wenn die Mutter nach außen hin stolz ist auf ihr Kind und den Glanz des Kindes nutzt, um sich selbst zu verschönern. „Das Abitur hat sie nur, weil ich sie immer so gefördert habe“, sagt sie vereinnahmend. Das Mädchen bekommt das Gefühl: „Ich muss immer ein Schildchen vor mir hertragen, das besagt: Die guten Noten, die Attraktivität, die Erfolge – das alles habe ich nur meiner Mutter zu verdanken – eigentlich gehört es ihr.“ Der Ärger wächst und so weiß die junge Frau manchmal gar nicht mehr: „Was bin ich und was ist meine Mutter?“
Voll belagert
Oft haben die Mütter ihre Töchter „narzisstisch besetzt“. Das heißt, die Mütter stellen viele – oft unbewusste – Forderungen an ihre Töchter und die Töchter passen sich an, um die Liebe der Mutter und den Frieden zu erhalten. Die Mutter hat Angst vor Trennung und die Tochter spürt das (meistens unbewusst). Also bindet sich die Tochter an die Mutter. Viele Frauen bemerken später, dass sie fast nur noch getan und gefühlt haben, was die Mutter wollte. Um von der Mutter akzeptiert zu werden, hat sich das Mädchen teilweise ein „falsches Selbst“ angeeignet.
Und wer bin ich?
Schließlich weiß die Tochter kaum noch, wer sie ist. Sie fragt sich, was aus ihr selbst heraus gereift ist, was eben mit Sicherheit nicht die Frucht der Mutter ist. Hier sind viele Frauen in schweren Identitätskrisen. Viele glauben, die Lösung bestünde darin, immer „Nein“ zusagen und immer das Gegenteil von dem zu tun, was die Mutter tat. Doch damit beschneiden sie sich selbst in ihrer Freiheit. Frei ist die Frau erst, wenn sie sagen kann: „Hier kann ich ‚Ja‘ zu etwas sagen, obwohl meine Mutter auch ‚Ja‘ sagen würde. Meine Lieblingsfarbe kann blau sein, obwohl es auch die Lieblingsfarbe meiner Mutter ist. Es ist trotz allem meine eigene Lieblingsfarbe.“
Zufriedene Mütter sind ein Segen
Wie schön ist es für Töchter, wenn sie Mütter haben, die zufrieden mit sich selbst und psychisch ausreichend satt sind. So kann sich die Tochter auf dem Weg zum Erwachsenwerden in Ruhe mit der Mutter identifizieren und sich Eigenschaften und Fähigkeiten der Mutter „zu eigen machen“, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben. Ist die Mutter unzufrieden mit sich und möchte sie die Tochter klein halten, dann hat das Mädchen oft das Gefühl, sie würde ihrer Mutter etwas klauen, wenn sie sich mit ihr identifiziert. Das Mädchen, das eine zutiefst unsichere Mutter hat, muss also heimlich erwachsen werden, wenn es die Mutter nicht kränken will.
Unzufriedene Mütter, unzufriedene Töchter
Die Mädchen nehmen – oft unbewusst – Rücksicht auf ihre unsichere und verzweifelte Mutter. Die Mutter nörgelt ständig an ihnen herum – diese „nörgelnde Haltung“ nehmen die Töchter schließlich gegenüber sich selbst ein. Sie machen sich den kritischen Blick der Mutter zu eigen. Und dann passiert es, dass sie selbst nur selten zufrieden mit sich sein können. Sie lehnen ihren Körper ab, sie finden keine Kleidung, in der sie sich wohlfühlen oder sie fühlen sich ständig minderwertig. Sie trauen sich nicht, Entwicklungsschritte zu gehen, weil sie (unbewusst) Angst haben, der Mutter damit wehzutun. Sie werden zum „grauen Mäuslein“ und ducken sich, wenn andere Frauen vorbeikommen, denen es besser geht.
Wege heraus
Aus solch einer inneren Verfassung herauszufinden, ist oft sehr schwierig. In einer psychoanalytischen Therapie oder Psychoanalyse werden solche Zusammenhänge greifbar. Mit dem Therapeuten oder der Therapeutin kann die Betroffene dann neue Erfahrungen machen. Sie kann sich zum Beispiel mit der Therapeutin identifizieren, sie kann also so werden wollen wie sie, ohne dass die Therapeutin dadurch beleidigt, gekränkt, übermäßig neidisch oder geschwächt ist. Die Patientin merkt: Ich darf mich in Ruhe mit meiner Therapeutin identifizieren, aber ich darf mich auch trennen und erwachsen werden, ohne befürchten zu müssen, dadurch die Therapeutin (die „Mutter“) zu schwächen oder ihren Neid und Hass auf mich zu ziehen.
Diese Erfahrung kann für viele Patientinnen sehr befreiend sein. So befreiend, dass sie schließlich sagen können: „Ja, hier bin ich anders als meine Mutter und dort bin ich genau wie sie. Es ist ok. Ich muss nicht mehr um jeden Preis der Welt anders sein als sie.“
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Dieser Beitrag erschien erstmals am 12.4.2013
Aktualisiert am 1.2.15
Dunja Voos meint
Vielen Dank!
Fips meint
Erneut ein guter Artikel.
barbara meint
Danke. Schmerzhaft und wahr. Es hat Klack gemacht und so viele Dinge werden klar.