Der Psychoanalytiker schweigt. Er zeigt sich lieber nicht, um seinem Patienten die Möglichkeit zu geben, so viel wie möglich über ihn zu phantasieren. Psychoanalytiker hat einen „aufnehmenden Beruf“ – der Analytiker nimmt das, was die Patienten ihm zeigen und sagen, auf. Der Journalist macht das Gegenteil. Er gibt ständig etwas von sich, verbündet sich mit der Öffentlichkeit, ist immer präsent. Das ist für den Journalisten überlebenswichtig. Nur so können potenzielle Auftraggeber ihn finden. Aber so finden ihn auch Patienten, wenn er gleichzeitig Psychoanalytiker ist. (Text & Bild: ©Dunja Voos)
Wissen beschneidet Phantasie
Der Journalist, der öffentlich seine Meinung äußert, der mit Bild und Stimme in Radio und Fernsehen erscheint, ist bekannt. Der Leser/Zuschauer hat das Gefühl, vertraut mit dem Journalisten zu sein. Der Psychoanalytiker, der dem Patienten die Tür öffnet, ist für den Patienten wie ein unbeschriebenes Blatt. Er ist reine Projektionsfläche. Ob er verheiratet ist, Kinder hat, aus welchem Haus er stammt, das alles weiß der Patient nicht. Und das ist wichtig, denn das Unbewusste zeigt sich in der Phantasie. Je mehr der Patient über den Analytiker phantasieren kann, desto besser ist das für die Psychoanalyse. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass viele Psychoanalytiker sich völlig aus den Medien fernhalten. Viele haben noch nicht einmal eine Website.
Wieviel will der Patient über den Analytiker wissen?
Es gibt Patienten, die möchten gerne viel über ihren Analytiker wissen und recherchieren viel im Netz. Sie schauen sich Vortrags-Videos ihres Analytikers auf Youtube an und suchen nach Bildern und Lebensläufen. Es beruhigt sie und inspiriert sie. Andere Patienten wiederum wollen nichts wissen über den Analytiker, weil sie spüren, wie wichtig es ist, sich den Analytiker nach ihrem Bilde in der Phantasie zu erschaffen. Für viele Patienten ist auch der Analyse-Raum heilig. Sie sind irritiert, wenn auf der Website des Analytikers das Innere der Praxis als Foto erscheint. Das ist allzu verständlich, denn der Praxisraum ist so etwas wie ein „psychischer Raum“, also für Patient und Analytiker etwas Intimes.
Die Realität lässt neue Phantasien erblühen
Wenn der Psychoanalytiker gleichzeitig Journalist ist, dann stolpern Patienten immer wieder auch über seine Präsenz in der Öffentlichkeit. Doch wieviel Phantasieraum fällt dadurch weg? Vielleicht weniger als gedacht. Die Journalisten und Moderatoren, die wir im Fernsehen sehen, meinen wir gut zu kennen. Vielleicht wissen wir, wieviele Kinder sie haben und wie ihr Hund aussieht. Vielleicht kennen wir ihre politische Meinung. Doch wenn wir an ihre Tür klopfen und sie auf einmal in der Realtiät vor uns sehen, ist das Wissen zweitrangig. Dann erblüht die Phantasie. Jung und frisch.
Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 24.12.2014
Aktualisiert am 27.6.2015
Fips meint
Ich halte das Schweigen des Therapeuten für falsch und kontraproduktiv.