Wer ein Baby hat, das zu viel schreit, schlecht schläft, Blähungen hat oder wenig isst, zweifelt verständlicherweise leicht an sich selbst. Welche Eltern wollen nicht ihr Kind zufrieden stellen? Sie versuchen alles – und doch: Das Baby ist unruhig und unzufrieden. Manchmal kann es sein, dass man das Baby „zu sehr“ zufrieden stellen möchte. Babys, die zu viel schreien, schlecht schlafen oder wenig essen, haben vielleicht eine „zu gute Mutter“. Der amerikanische Kinderpsychoanalytiker Donald W. Winnicott (1896-1971) sagte in den 60iger Jahren, dass eine Mutter nur „gut genug“ (good enough) – also ausreichend einfühlsam – sein müsse.
Zu belastet, zu einsam
Viele Mütter sind jedoch allein auf sich gestellt, haben keine Entlastung und wollen das allerbeste geben. Ist die Mutter dann „zu gut“ (too good), zu angepasst an die Bedürfnisse des Kindes, dann hat das Kind manchmal zu wenig Raum, um sich selbst kennenzulernen oder um einzuschlafen.
Gefühle wollen entstehen und wachsen
Wird ein Kind gefüttert, bevor es seinen Hunger spürt, hat es nicht die Chance, die eigenen Gefühle zu entdecken und eigene Versuche zu unternehmen, mit dem Gefühl umzugehen. Ein Kind, das zu häufig etwas erhält, bevor es sich äußern darf, reagiert irgendwann mit Abwehr. Es fühlt sich in seinem Eigenleben beschnitten und versucht, sich Raum zu schaffen, um eigene Gefühle zu erleben. Es schiebt die Mutter weg. Dadurch fühlt sich die Mutter abgelehnt und versucht vielleicht umso mehr, dem Kind entgegenzukommen und seine Wünsche – vorzeitig – zu erfüllen. Hier die Mitte zu finden, besonders wenn man alleine ist, kann sehr schwer sein.
Ersticken in der Überbemutterung
Auch als Erwachsene kennen wir noch dieses Gefühl: Wenn uns jemand „überbemuttert“, werden wir ungehalten. Ich war einmal zu Gast bei einer übereifrigen Gastgeberin. Jedesmal, wenn ich meinen letzten Schluck Kaffee genießen wollte, fand ich schon wieder frischen Kaffee in meiner Tasse vor. Das war unglaublich frustrierend. Ich hatte das Gefühl, mir sei der „letzte Schluck“ nicht gegönnt.
Wenn Abstand zu kurz kommt
Das richtige Maß zu finden, kann eine große Aufgabe sein. Besonders Eltern, denen es in der eigenen Kindheit nicht gut gegangen ist, sind bestrebt, alles besser zu machen. Eltern jedoch, die es zu gut meinen, haben manchmal Schreibabys, obwohl die Mutter nach Bedarf stillt, obwohl das Kind im Elternbett schlafen darf und obwohl die Mutter das Kind fast den ganzen Tag im Tragetuch trägt – oder vielleicht gerade deshalb. Alleinerziehende, denen der Partner als „Puffer“ fehlt, versuchen möglicherweise ganz besonders, ihr Kind zufriedenzustellen, bevor es unzufrieden wird. Ihr schlechtes Gewissen mag einiges dazu beitragen. Viele Mütter haben verständlicherweise schon aufgrund der Erschöpfung Angst vor dem nächsten Schreien des Kindes.
Zu viel Nähe ohne Vater
Wo immer es an „trennenden Dritten“ fehlt, ist die Wahrscheinlichkeit gegeben, dass das Kind „zu viel“ Nähe erfährt. Daran hat die Mutter aber keine Schuld. Es ist der Umstand, es ist die Situation, die zu dieser Enge führt. Ähnlich, wie es uns Erwachsenen auch manchmal besser gelingt, einzuschlafen, wenn Vertraute noch wach sind, so kann man feststellen, dass ein Kind genau dann einschläft, wenn sich Vater und Mutter unterhalten. Es schläft quasi „unter ihnen weg“ und unbemerkt ein. Die Kinder mögen es, wenn die Eltern auf gesunde Art abgelenkt und in gewissem Maß mit anderen Dingen beschäftigt sind. Dann sind sie in einer gesunden Art und Weise vom Kind abgerückt. Das Kind spürt die Nähe zu den Eltern und hat doch genug Raum, ganz bei sich selbst zu sein.
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Juliet Hopkins:
The dangers and deprivations of too-good mothering.
Journal of Child Psychotherapy, Dez. 1996: 407-422
Dieser Beitrag erschien erstmals am 13.9.2011
Aktualisiert am 14.11.2014
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