Wenn Psychoanalytiker ihre Patienten verstehen wollen, so tun sie das unter verschiedenen Gesichtspunkten. In der Psychoanalyse spricht man von topografischen, psychodynamischen, strukturellen, genetischen und energetisch-ökonomischen Aspekten.
Wo liegt das Problem? Der topografische Aspekt
Körperliche Störungen lassen sich relativ leicht erfassen: Gallensteine sind im Ultraschall zu sehen. Bei der Psyche funktioniert das nicht so leicht. Hier muss man sich mit verschiedenen Begriffen behelfen, um zu sehen, an welcher „Stelle“ („topos“ = griechisch für „Ort“) der Psyche etwas passiert. Daher sprechen die Psychoanalytiker vom Unbewussten (ubw) und vom Bewussten (bw), um den „Ort“ zu beschreiben, an dem ein psychischer Vorgang stattfindet. Dazwischen steht der Zensor, der unerwünschtes Unbewusstes nicht an die Oberfläche lässt. Nahe am „Zensor“ steht das Vorbewusste. Damit sind die Gedanken, Gefühle und Phantasien gemeint, die uns „halbbewusst“ sind, aber wofür uns noch oft die Worte fehlen. Weitere „Orte“ eines seelischen Vorgangs sind das Es, Ich und Über-Ich.
Die Psyche ist immer in Bewegung: Der psychodynamische Aspekt
Wir wollen uns ständig weiterentwickeln – und manchmal würden wir am liebsten alles wieder niederreißen. Sigmund Freud stellte fest, dass wir sowohl den Sexualtrieb als auch den Todestrieb in uns haben. Doch wir halten unsere Triebe in Schach, so dass sie das soziale Leben nicht stören.
Unsere bewusste Wahrnehmung ist nur die halbe Wahrheit. Wenn wir jemanden mögen, gibt es dennoch genug Seiten am anderen, die wir nicht mögen. Aber das verdrängen wir gerne – oder umgekehrt: Wenn wir jemanden nicht mögen, sehen wir seine positiven Seiten nicht mehr. Wir spüren unsere Wut kaum, wenn wir als Kinder dazu erzogen wurden, unsere Wut nicht zu zeigen. Depressive Menschen spüren manchmal ihre Freude nicht, weil sie sich schuldig fühlen, wenn es ihnen gut geht. Besonders, wenn „negative“ Gefühle wie Eifersucht, Scham und Wut im Spiel sind, wollen wir diese Seiten vor uns selbst und anderen gerne verstecken. Dazu benutzen wir verschiedene Mechanismen, die sogenannten „Abwehrmechanismen“. Was wir verdrängen, arbeitet im Unbewussten jedoch weiter. Und so „kämpfen“ die unbewussten und bewussten psychischen Kräfte miteinander. Dieses Ringen bezeichnen Psychoanalytiker als „Psychodynamik“.
Wie reif sind wir? Der strukturelle Aspekt
Kinder sind noch „unreif“. Sie glauben an den Weihnachtsmann und suchen das Monster unter dem Bett. Je reifer sie werden, desto besser können sie Realität von Fantasie unterscheiden, desto besser können sie Erlebtes verarbeiten und ihre Gefühle steuern. Pubertierende befinden sich oft im Taumel. Das Gehirn „strukturiert“ sich neu und sortiert. Das Kind fragt sich auf dem Weg zum Erwachsensein: Wer bin ich, was will, wie ordne ich die Welt ein? Es wird sich seiner selbst immer bewusster. Der Erwachsene „funktioniert“ dann im Alltag. Er kann Frustration ertragen, seiner Arbeit nachgehen, gewissenhaft sein, aber auch lieben, faul sein und genießen. Man sagt auch: Der gesunde Erwachsene ist „Ich-stark“. Das „Ich“, das zwischen den Trieben, also dem „Es“, und dem Gewissen, also dem Über-Ich, vermittelt, funktioniert gut. Die „Strukturen“ „Ich“, „Es“ und „Über-Ich“ sind ausgewogen.
Der reife Erwachsene hat seine Identität mehr oder weniger gefunden. Er kennt Höhen und Tiefen und findet seinen Mittelweg. Dennoch: Auch der Erwachsene trägt noch kindliche Strukturen in sich: Erlebnisse, die nicht „verdaut“ wurden, Beziehungen, die schwierig sind oder Probleme mit dem Selbstwertgefühl stehen auch dem Erwachsenen noch regelmäßig im Weg. An kritischen Punkten verhält sich auch der Erwachsene mitunter nicht so richtig erwachsen. Ein gesunder Erwachsener ist psychisch so strukturiert, dass er gute Beziehungen führen kann, sich selbst weitgehend akzeptiert, Frust toleriert und gut für sich sorgt.
Bei psychischen Störungen ist die Psyche jedoch etwas „labiler“ – man wird leichter auch schon von alltäglichen Widrigkeiten umgehauen, rastet leichter aus und führt schaukelige Beziehungen. Man sieht sich selbst und andere extremer: Mal besonders gut, mal besonders schlecht. Manche Erinnerungen oder Selbstanteile sind „schlecht integriert“ und führen immer wieder zu Ängsten. Alleinsein ist schwierig, Beziehung aber auch. Bei einer psychischen Störung herrscht Orientierungslosigkeit in der Psyche vor. Diese „Orientierungslosigkeit“ kann sich durch aggressives Verhalten, Süchte, Unzuverlässigkeit, Konzentrationsstörungen und vielem mehr äußern. Das „Ich“ ist schwach. Die Palette von „hoher Strukturierung“ bis zur „niedrigen Strukturierung“ ist groß. Psychoanalytiker beschreiben daher auch immer das „Strukturniveau“ eines Patienten.
Wo sind wir stehengeblieben? Der genetische Aspekt
Kinder entwickeln sich aus entwicklungspsychologischer Sicht über drei Phasen: die orale, anale und ödipale Phase. Diese Entwicklung wird auch als „psychosexuelle Entwicklung“ bezeichnet. Die orale Phase im ersten Lebensjahr wird durch den Mund (lateinisch = „Os“) bestimmt – das Baby erforscht die Welt über den Mund. Nuckeln, Trinken und Gefüttertwerden sind das Wichtigste.
Die anale Phase im zweiten und dritten Lebensjahr führt zu einem bewussten Umgang mit der willkürlichen Muskulatur. Die Kinder werden „sauber“, erfahren sich als begrenzte Individuen, lernen laufen und sprechen.
In der ödipalen (= phallischen) Phase vom vierten bis zum sechsten Lebensjahr dreht sich alles um das eigene und das andere Geschlecht. Das Mädchen wird bewusst zum Mädchen, der Junge zum Jungen. Das Mädchen ist in den Vater „verliebt“, der Junge in die Mutter. Bald ist diese Phase beendet und es folgt eine Latenzperiode vom sechsten Lebensjahr bis zur Pubertät. Die genitale Phase steht am Ende der psychosexuellen Entwicklung und ist der Anfang der ausgelebten erwachsenen Sexualität.
Die einzelnen Phasen verlaufen nie ideal – immer wieder gibt es kleinere und größere Störungen. Depressionen werden auf die „orale Phase“ zurückgeführt, denn hierbei dreht es sich um die Themen Passivität, Aggressivität, Versorgtwerden und Versorgen. Patienten, die „oral fixiert“ sind, leiden z.B. unter Essstörungen, Nikotin- oder Alkoholsucht.
Zwangsstörungen bringen Psychoanalytiker mit Problemen in der analen Phase in Verbindung. Es geht um Autonomie, Trotz, Widerstand und Selbstverwirklichung.
Ungünstige Entwicklungen während der ödipalen Phase, oder besser gesagt: Probleme mit „ödipalen Themen“, können zur Hysterie führen. Missbrauchserlebnisse in der Kindheit wirken bis in das Erwachsenenleben hinein und erschweren es, wirklich Mann oder wirklich Frau zu sein.
Je nachdem, ob eine hysterische, zwanghafte oder depressive Störung überwiegt, kann man sagen, dass die Betroffenen in ihrer Entwicklung punktuell auf einer dieser Phasen teilweise stehengeblieben sind.
Aus dem Gleichgewicht geraten: Der energetisch-ökonomische Aspekt
Wer an einer psychischen Störung leidet, ist innerlich sehr beschäftigt. Er hat zum Beispiel einen Konflikt, den er kaum lösen kann. Die Art der Konflikte kann auch die Art der Neurose bestimmen – wer sich zum Beispiel für etwas schuldig fühlt, möchte sich möglicherweise mit Zwängen selbst bestrafen. Somit bekommen die neurotischen Symptome auch einen Sinn – sie sind dem Patienten nützlich, um sich nicht schuldig zu fühlen.
Verdrängte Triebe, Gefühle, Wünsche und Gedanken arbeiten im Unbewussten weiter, so dass es zu Abwehr, Grübeleien, Ängsten und inneren Kämpfen kommt. Das alles braucht viel Kraft – so viel Kraft, dass der Alltag zum Problem wird. Mit seelischen Problemen lässt sich schlecht schlafen, lieben, leben und arbeiten.
Je schwerer das seelische Leid ist, desto mehr Kraft wird für das Verdrängen oder für Lösungsversuche aufgewendet. Die Kraft für die alltäglichen Dinge fehlt dann. Der äußere Kräftemangel zeigt an, dass der Betroffene seelisch hart arbeitet. Im Alltag ist er daher nicht so aktiv wie andere. Er zieht sich zurück und reagiert heftig auf kleine Missgeschicke, auf Kritik oder Anforderungen.
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Literatur:
Siegfried Elhardt
Tiefenpsychologie
Kohlhammer Verlag
15. Auflage 2001
Therapie-Erfahrener meint
Wo gibt es empiriscge Belege, dass Leute mit bestimmten Störungen in der „Oralen-Phase“ stecken geblieben sind?
Woher die Gewissheit, dass Leute mit Zwängen sich für etwas bestrafen wollen wofür Sie sich schuldig fühlen? Kann man Zwänger nicht auch als Versuch seine eigene Unsicherheit damit zu kompensieren versthenen, Leute haben kainen Halt und denken sich selber Zwangregeln aus. Eher würde ich typische Borderline-Selbstverletzungen als Kompentation gegen Schuldgefühle sehen natürlich gemischt damit dass das Antidissotiations-Medikamente sind.
Wenn solche Therorien nicht emperisch belegt sein sollten, macht es dann überhaupt Sinn mit der Vermittlung solche Theorien zu therapieren oder sollte man lieber gucken wie man mit dysfunktionalen Symtomen besser umgeht ?