Die Sprache in der Psychose: Es war einmal der Sinn (Psychose-Serie 18)

Menschen in einer Psychose entwickeln häufig eine ganz eigene Sprache. Ihr inneres Erleben ist so schwierig zu beschreiben, dass sie z.B. Worte für spezielle Erfahrungen erfinden. Ähnlich tun es kleine Kinder in ihrer Entwicklung. Pippi Langstrumpf erfindet das Wort „Spunk“. Durch die Nähe zum Traum finden sich im nicht ganz klaren psychischen Zustand manchmal auch interessante Sprach-Ergebnisse: So phantasierte eine psychotische Patientin einen Drachen (englisch „Dragon“), nachdem Christopher Bollas das Verb to „drag on“ (= sich hinziehen) verwendete (Bollas: Wenn die Sonne zerbricht, Klett-Cotta, 1. Auflage 2019).
Was das Gehirn aus Bildern und Worten auch bei Gesunden machen kann, beschreibt der Psychoanalytiker Wolfgang Leuschner in seinem Buch „Telepathie und das Vorbewußte“ (Sigmund-Freud-Institut, 2004, S. 102/103). Aus den sehr kurz gezeigten Bildern eines Stifts (englisch: „Pen“) und eines Knies (englisch: „Knee“) wurde in der Schlaf-Verarbeitung ein „Penny“ (Pen-Knee) (Primärquelle: Subliminalisierungsversuch von Shevrin und Luborsky, 1958: The measurement of preconscious perception in dreams and images. An investigation of the Poetzl phenomenon. Journal of Abnormal and Social Psychology 56: 258-294, psycnet.apa.org/record/1959-09534-001).
Menschen in einer Psychose verlieren auch manchmal die Fähigkeit, zu symbolisieren. Sie sprechen dann sehr konkret und verstehen die Dinge konkret. „Blaumachen“ können sie dann nicht mehr als „Schwänzen“ verstehen, sondern denken daran, wie jemand etwas blau anmalt. Menschen in der Psychose denken oft sehr konkretistisch, was sich dann auch in ihrer Sprache widerspiegelt (siehe Psychose-Serie 5: Konkretistisches Denken kommt häufig bei Psychosen vor).
Die Psychologieprofessorin Ariane Bazan schreibt (auf deutsch übersetzt von Voos): „In line with Freud’s theory, phonological and rebus-type (e.g. “penny“) associations were considered indicative of primary processes.“ „Entsprechend Freuds Theorie, gehören phonologische und Rebus-artige (z.B. „Penny“) Assoziationen dem Primärprozess an.“
„Schizophrenia is characterized by a predominance of primary processes and diminished secondary-process functioning.“ „Schizophrenie ist charakterisiert durch ein Überwiegen des Primärprozesses im Denken, während das sekundärprozesshafte Denken reduziert ist.“ „The predominance of primary processes leads to associative speech resulting in situations where the unconscious is ‚at the surface‘ (Freud, 1900).“ „Die Vorherrschaft des Primärprozesses führt zu einer assoziativen Sprache, sodass das Unbewusste ‚an der Oberfläche‘ ist (Freud 1900).“
„Psychotic symptoms would then be the consequence of a lesser functioning of the ego and of the secondary processes, both of which lead to primary-process predominance.“ „Psychotische Symptome können betrachtet werden als das Ergebnis einer reduzierten Ich-Funktion und eines verminderten Denkens im Sekundärprozess. Beides führt zu einer Dominanz des primärprozesshaften Denkens.“
Bazan, Ariane (2009) Not to be Confused about Free Association. Neuropsychoanalysis 11:163-167, www.tandfonline.com/doi/abs/10.1080/15294145.2009.10773608, siehe auch Rebus-Rätsel (raetseldino.de), „rebus“, abgeleitet von lateinisch „res“ = Sache
Die Autorin des Buches „Ich habe Dir nie einen Rosengarten versprochen“, Hannah Green (echter Name: Joanne Greenberg) hatte eine eigene Sprache entwickelt („Iridian“, so verstehe ich es im Film „Take these broken wings – Schizophrenie heilen ohne Medikamente“ von Daniel Mackler, 2014). Häufig aber fällt es Menschen in einer Psychose oder in einem schwierigen psychischen Zustand überhaupt schwer, zu sprechen. Zu sprechen bedeutet dann eine große Anstrengung und ist häufig auch begleitet von Angst.
Psychotische Sprache erscheint sinnlos, trägt aber Spuren von Sinnzusammenhängen
Wenn wir das Sprechen von Psychotikern nicht zu schnell als vollkommen unverständlich abtun, sondern es vielleicht wie einen Traum betrachten und unsere eigene Sprachphantasie walten lassen, können wir möglicherweise häppchenweise den ursprünglichen oder aktuellen Sinn des Gesagten verstehen. So, wie wir beispielsweise von anderen Personen träumen, die jedoch eigene Anteile des Ichs oder ganz uns selbst darstellen, so kann auch der Psychotiker von anderen sprechen und sich selbst meinen. Oder aber er spricht von einer „bewegten See“ um seine Wut anzudeuten.
Um zu verstehen, müssen wir den Psychotiker, seine Geschichte und seine aktuellen Erlebnisse jedoch genau kennen. Ähnlich wie bei der Traumdokumentation kann es hilfreich sein, den psychotischen Patienten zeichnen zu lassen, was er mit seinen Worten meint oder assoziiert. Manchmal ist es auch sein Ziel, den anderen zu verwirren, um sich selbst verstecken zu können.
„Psychotic discourse is characterized by comparatively reduced vocabulary, short-range repetitions of word sequences, a reduction in long-range themes, and a decrease in the global extent of the word network employed.“ (Übersetzt von Voos:) „Psychotiker sprechen mit einem reduzierten Wortschatz. Sie wiederholen sich nach kurzen Sequenzen und sie vermeiden, über längere Themen zu sprechen. Das Ausmaß des angewendeten Wortnetzwerks ist reduziert.“ Mota, N.B., Sigman, M., Cecchi, G. et al. The maturation of speech structure in psychosis is resistant to formal education. npj Schizophr 4, 25 (2018). doi.org/10.1038/s41537-018-0067-3, www.nature.com/articles/s41537-018-0067-3
Wir erreichen psychotische Menschen mitunter über das Spielen und die Poesie. Dichter machen manchmal dasselbe wie Psychotiker, nur eben bewusst als Kunst: Sie verdichten. Und oft verstören sie, indem sie Texte „psychotisieren“. Texte der Schriftstellerin Elfriede Jelinek können an psychotische Sprache erinnern (siehe: Das Heidegger-Lied. Dunkles von Elfriede Jelinek, 1991, ZeitOnline und ElfriedeJelinek.com sowie Wikipedia). Aber auch Heideggers Texte erinnern durch die Wortneubildungen und die Beschäftigung mit dem Existenziellen an manches Gespräch mit einem gebildeten Menschen in der Psychose: „Dasein ist Seiendes, das sich in seinem Sein verstehend zu diesem Sein verhält“, Heidegger vertont von Thomas Pigor & Benedikt Eihhorn, 1.9.2012: Philosophie ist tanzbar.
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Literaturtipps:
Elaine Ostrach Chaika (1990):
Understanding Psychotic Speech. Beyond Freud and Chomsky
Providence College, Rhode Island, Charles C. Thomas Publisher Springfield, Illinois, USA
„All psychoanalysis, all therapeutic situations, in fact, are mediated by language, but, often, the therapist has not looked at language in its own right, has never asked questions like ‚How do I know X is implying that? … Why do I feel that this speech is strange? … What does it mean to keep to a topic? … Why am I so sure that this patient is using a metaphor, and really means something quite different from what he says?‘ … That, then, is the business of this book.“
www.goodreads.com/book/show/1715682.Understanding_Psychotic_Speech
Champagne-Lavau Maud et al. (2006):
Social Cognition Deficit in Schizophrenia: Accounting for Pragmatic Deficits in Communication Abilities?
Current Psychiatry Review, 2006: (2) 309-315
DOI: 10.2174/157340006778018184
www.eurekaselect.com/article/2434
www.researchgate.net/publication/233597010…
„Schizophrenic individuals show impairments in language affecting what is referred to as the pragmatic component of language, typically the processing of non-literal language (e.g., irony, metaphor, indirect request). Such non-literal utterances require the ability to process the speaker’s utterance beyond its literal meaning in order to allow one to grasp the speaker’s intention by reference to the contextual information. … Evidence is reviewed suggesting that cooccurrence of a deficit in non-literal language understanding and a deficit in theory of mind may be accounted for by an impairment in context processing associated with a lack of flexibility.“
Michael Meyer zum Wischen:
Zur Erfindung eines Namens. Gedanken zu Übertragung und Wort in der Psychose
transcript Verlag 2007
www.degruyter.com/document/doi/10.1515/9783839406618-007/html
„Die Frage nach der mangelnden oder fehlenden Verankerung des Subjekts in der Sprache ist grundlegend für eine psychoanalytisch begründete Arbeit mit Psychotikern.“ S. 123
Paul Williams:
The Psychoanalytic Therapy of Severe Disturbance
Routledge, 2010
www.routledge.com/The-Psychoanalytic-Therapy-of-Severe-Disturbance/…
Dieser Beitrag erschien erstmals am 27.9.2022
Aktualisiert am 1.8.2025