John Bowlby: Aus der Bindungstheorie (Attachment Theory) lässt sich herleiten, wie sich die Psyche gesund entwickelt und was sie krank macht

Sobald ein Ungeborenes das Licht der Welt erblickt, nimmt es Kontakt zur Mutter auf. Seine Stimme und Blicke erreichen sie und die Mutter weiß intuitiv, was zu tun ist. Dieses angeborene Bindungsverhalten sichert uns seit jeher das Überleben. Der britische Arzt und Psychoanalytiker John C. Bowlby (www.sgipt.org) (1907-1990) und die amerikanische Entwicklungspsychologin Mary S. Ainsworth (Wikipedia) (1913-1999) entwickelten die Bindungstheorie.

John Bowlby war Sohn eines hohen britischen Offiziers, Sir Anthony Alfred Bowlby. Er (John) hatte im Auftrag der Weltgesundheitsorganisation (WHO) am Ende des zweiten Weltkrieges erforscht, was mit den Kindern passierte, die ihre Eltern verloren hatten. Er kam zu dem Ergebnis, dass traumatische Trennungserfahrungen in der Kindheit zu psychischen Störungen führen können, die sich bis ins Erwachsenenalter hinein zeigen.

Das kleine Kind braucht die Mutter, den Vater und/oder eine andere enge Bezugsperson, um mit Spannungen wie Angst oder Schmerzen umgehen zu können. Emotionale Entwicklung, Emotionsregulation und psychische Sicherheit sind nur durch Bindung möglich. Die Bindungsforscher Judith und Allan Schore (www.allanschore.com) sagen, dass sich die klassische Bindungstheorie heute mehr in eine „Regulationstheorie“ weiter entwickelt hat. Kinder lernen ihre eigenen Affekte zu regulieren, indem zunächst die Eltern ihre Affekte wahrnehmen und sie beruhigen.
Judith and Allan Schore (2008):
Modern Attachment Theory: The Central Role of Affect Regulation in Development and Treatment
Clinical Social Work Journal, 36, 9-20 (2008)
link.springer.com/article/10.1007/s10615-007-0111-7

Die Theorien beschreiben ein Ideal, sodass man sich als Eltern fast automatisch schlecht fühlen kann, wenn man darüber liest. Auch siehst du bei der Beschäftigung mit der Bindungstheorie die Fehler deiner eigenen Eltern verstärkt und manchmal denkst du vielleicht, alles sei verloren. Doch Entwicklung ist niemals ideal und Entwicklung ist ein Leben lang möglich. Die Suche ist das, was zählt.

Die Entwicklungspsychologen Klaus und Karin Grossmann fassen zusammen, was Bowlby erkannt hatte: „Die Entwicklung von Bindungen an Erwachsene, die für das Kind da sind, die stärker und weiser sind, und die seine Bindungsbedürfnisse befriedigen, sind eine notwendige Voraussetzung für die Entwicklung psychischer Sicherheit. Ein bindungsloser Mensch ist ein psychisches Wrack und wegen seiner depressiven oder gewalttätigen Neigungen und Impulse eine Bedrohung für sich selbst und für andere.“ (Anmerkung Voos: Ich denke hier eher an den Düsseldorfer Hauptbahnhof. Wenn Du zu den Lesern und Leserinnen hier gehörst, lass dich nicht zu sehr herunterziehen.)
Klaus E. Grossmann und Karin Grossmann, Universität Regensburg:
Die Qualität der Bindungen und ihre Auswirkungen auf die individuelle Anpassungsfähigkeit im Lebenslauf. Vortrag Burg Rothenfels, 02.07.2004

Wie Kinder auf Trennung reagieren

Die Entwicklungspsychologin Mary Ainsworth (1913-1999) untersuchte Mitte der 1980iger Jahre, wie sich Kinder verhalten, wenn sie von ihrer Mutter getrennt werden. Sie schaffte eine so genannte Fremde Situation: Die Kinder gingen mit der Mutter in einen Raum, in dem eine fremde Person war. Dann verließ die Mutter das Zimmer und kam nach einer Weile zurück. In einem zweiten Versuch verließen sowohl Mutter als auch die fremde Person den Raum und kamen schließlich nacheinander zurück.

Mary Ainsworth fand drei Bindungstypen, die sich je nach Feinfühligkeit der Mutter ergaben:

  • Sichere Bindung (B-Bindung):
    Sicher gebundene Kinder weinen, wenn die Mutter den Raum verlässt. Sie vermissen sie während der Abwesenheit und zeigen ihren Schmerz bei ihrer Rückkehr. Sie laufen zu ihr hin und lassen sich von ihr beruhigen
  • Unsicher-vermeidende (A-Bindung) und unsicher-ambivalente Bindung (C-Bindung):
    Die „vermeidenden“ Kinder laufen nicht freudig auf die Mutter zu, wenn die Mutter nach einer Trennung zurückkommt, sondern halten vorsichtigen Abstand. Sie bleiben bei ihrem Spielzeug, ohne es zu beachten. „Unsicher-ambivalent“ gebundene Kinder laufen auf die Mutter zu, lassen sich von ihr auf den Arm nehmen, erwidern jedoch nicht die Umarmung. Sie bleiben passiv auf dem Arm der Mutter. Unsicher gebundene Kinder lassen sich nicht so leicht von ihrer Mutter beruhigen. Sie beobachten sie ängstlich.

Die amerikanische Psychologin Mary Main beschrieb später noch die

Desorganisierte und desorientierte Bindung (D-Bindung):
Während unsicher-vermeidend und unsicher-ambivalent gebundene Kinder in ihrem Verhalten noch organisiert sind, sind die desorganisiert gebundenen Kinder völlig unvorhersehbar in ihrem Verhalten. Sie sind während der Trennung äußerst gestresst und wissen nicht, wie sie sich der Mutter wieder annähern sollen, wenn sie zurückkommt – mitunter zeigen sie Angst bei der Rückkehr und bizarre Verhaltensweisen.

Lesetipp: Zeitschrift „Attachment Journal“

Wenn du dich für Bindung, Entwicklungspsychologie und Psychoanalyse interessierst, sei dir das „Attachment Journal“ (Bowlby Centre) ans Herz gelegt. Das englischsprachige Journal informiert alltagsnah über aktuelle Entwicklungen in Psychotherapie und Relationaler Psychoanalyse („New Directions in Psychotherapy and Relational Psychoanalysis“). Es versteht sich ausdrücklich nicht als akademisches Journal. Die Herausgeber möchten die Kollegen ermuntern, Beiträge über ihre klinische Arbeit, Gedichte, persönliche Erfahrungen, Buchbesprechungen und ähnliches einzureichen. Sie schreiben unter anderem: „Wir glauben, dass psychisches Leid seinen Ursprung in unangemessenen frühen Bindungsbeziehungen hat und am besten durch eine Langzeit-Beziehung behandelt werden kann.“

„Our values for clinical work are:

  • We believe that mental distress has its origin in failed or inadequate attachment relationships in early life and is best treated in the context of a long-term human relationship.
  • Attachment relationships are shaped in a social world that includes poverty, discrimination and social inequality. The effects of the social world are a necessary part of the therapy.
  • Psychotherapy should be available to all, and from the attachment perspective, especially those discriminated against or described as „unsuitable“ for therapy.
  • Psychotherapy needs to be provided with respect, warmth, openness, a readiness to interact and relate, and free from discrimination of any kind.
  • Those who have been silenced about their experiences and survival strategies need to have their reality acknowledged and not pathologised.“

Verwandte Artikel in diesem Blog:

Links:

The Bowlby Centre, London
thebowlbycentre.org.uk

The Ainsworth Strange Situation Experiment
The New York Attachment Consortium
Youtube, 16.11.2010

Karl Heinz Brisch, Bindungsforscher
www.khbrisch.de

John Bowlby (1907-1990)
Arzt, Psychoanalytiker, Pionier der Bindungsforschung
Society for General and Integrative Psychology

Bowlby-Ainsworth Award
www.centermhp.org/bowlby-ainsworth-awards

New York Attachment Consortium

The Attachment Projekt
www.attachmentproject.com/about/

Karl-Heinz Brisch:
Bindungsstörungen. Von der Bindungstheorie zur Therapie.
Klett-Cotta, 11. Auflage, 2011

Klaus E. Grossmann und Karin Grossmann (Hrsg.):
Bindung und menschliche Entwicklung.
John Bowlby, Mary Ainsworth
und die Grundlagen der Bindungstheorie.
Klett-Cotta, Stuttgart 2003

Karin Grossmann und Klaus E. Grossmann (Hrsg.):
Bindungen – das Gefüge psychischer Sicherheit.
Klett-Cotta, Stuttgart 2004

John Bowlby (1953):
Childcare and the Growth of Love
amazon

Hesse Erik, Main Mary (2006):
Frightened, threatening, and dissociative parental behavior in low-risk samples:
description, discussion, and interpretations.
Development and Psychopathology 2006 Spring; 18(2):309-343
Source: Department of Psychology, University of California at Berkeley, Kalifornien, USA
journals.cambridge.org/action/displayAbstract?fromPage=online&aid=420119

Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 21.8.2012
Aktualisiert am 8.11.2025

One thought on “John Bowlby: Aus der Bindungstheorie (Attachment Theory) lässt sich herleiten, wie sich die Psyche gesund entwickelt und was sie krank macht

  1. Robby sagt:

    Es wird spannend zu beobachten sein inwieweit psychologische Erkenntnisse zu pädagogisch-politischen Imperativen werden.
    Innerhalb der Forschungen zur Epigenetik beispielsweise wurden die negativen Auswirkungen von Depressionen auf die Mutter-Kind-Beziehung als schwerwiegend erkannt / eingestuft.
    Prof. Dr. Johannes Huber berichtet in diesem Zusammenhang von Überlegungen schwedischer Behörden depressiven Müttern das Sorgerecht zu entziehen (in „Liebe läßt sich vererben“).

    Ähnlich gelagerte Eingriffe in die persönliche Freiheit sind speziell bezogen auf (Umsetzungen der) Erkenntnisse der Bindungstheorie kann man in Großbritannien beobachten. Dort mit der Tendenz zu(r) (zwangsweise verordneten Annahme von) Beratungs-„Angeboten“.

    Auch wenn solche Maßnahmen in Einzelfällen sinnvoll und angebracht sein mögen scheint mir die implizite Tendenz zu paternalistischer Bevormundung (Stichwort‚benevolent dictator‘) außerordentlich bedenklich.

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