Scham – Gefühle erklärt für Kinder. Was kann ich gegen zu viel Scham tun?

„Der liebe Gott sieht alles“, sagen manche Eltern. Oder sie sagen: „Der Weihnachtsmann weiß, wann du böse warst.“ Ich glaube das nicht. Ich glaube, dass jedes Kind und jeder Erwachsene eine Schutzhülle hat und braucht, damit es ihm gut geht. Auch unser Herz liegt geschützt in unserer Brust und ist für andere nicht sichtbar. Nur so können wir gesund bleiben. Jedes Kind und jeder Erwachsene braucht einen Raum, wo er ganz allein für sich sein kann. „Das ist privat“ nennen es die Erwachsenen, wenn sie sagen wollen, dass es andere nichts angeht, was sie tun oder denken.

Es macht Freude, wenn man mal ganz für sich alleine ist. Es ist auch schön, wenn man etwas für sich hat, von dem die anderen nichts wissen. Wenn andere aber zu neugierig sind und immer alles wissen wollen, oder wenn Erwachsene einfach immer ins Zimmer kommen, ohne anzuklopfen, dann ist es schwer, einen privaten Raum zu haben. Manchmal verliert man dann auch die Lust daran, für sich alleine zu sein – weil man immer Angst haben muss, dass ein anderer einfach reinplatzt.

Wohl jeder hat das Bedürfnis, sich vor allzu neugierigen Blicken zu schützen. Wir tragen Kleider, weil wir nicht wollen, dass andere uns nackt sehen. In manchen Nächten träumen wir aber, dass wir uns nackt zeigen und finden das schön. Wir können uns heimlich wünschen, dass die anderen uns nackt sehen. Diesen Wunsch können wir gut verstecken. Wenn wir aber einmal aus Versehen die Hose auflassen, ist uns das furchtbar peinlich, weil wir etwas gemacht haben, was nicht normal ist. Es ist uns aber auch peinlich, weil unser heimlicher Wunsch, nackt zu sein, vielleicht auf diese Weise entdeckt wird.

Es ist uns wichtig, zu anderen dazuzugehören und normal zu sein. Wenn wir aus Versehen etwas machen, was nicht normal ist oder gegen Regeln verstößt, haben wir Angst, dass wir ausgelacht werden. Wer ausgelacht wird, der schämt sich und gehört kurze Zeit nicht mehr zu den anderen. Man fühlt sich dann ausgestoßen und das macht Angst.

Versteckte Wünsche

Von anderen ausgestoßen zu werden, macht oft so große Angst, dass man sich sogar verbietet, manche Dinge bloß zu denken. Man verbietet sich zum Beispiel, den Lehrer doof zu finden, weil man ja eine gute Note haben möchte. Oder man verbietet sich, den beliebtesten Jungen der Klasse zu mögen, weil man Angst hat, er könnte einen auslachen. Es ist anstrengend, sich Gedanken und Gefühle zu verbieten. Dabei müsste man das gar nicht! Sich etwas zu wünschen heißt ja, dass etwas im Innenleben passiert. Wir können das, was wir denken und fühlen, für uns behalten und müssen es nicht nach außen tragen.
Wenn wir sicher sind, dass unsere Grenze dicht ist und dass ein Wunsch eben erst einmal nur ein Wunsch ist, dann dürfen wir auch unsere schlechten Wünsche bemerken. Wir können uns ruhig wünschen und vorstellen, den Lehrer zu treten. Wir schämen uns dann nicht, wenn wir wissen, dass der andere nicht in unseren Kopf gucken kann. Das ist dann Freiheit.

Scham ist stark. Scham kann so stark sein, dass sie einen daran hindert, etwas zu tun, was man gerne tun möchte. Verliebt man sich in ein Mädchen, so kann man es nicht ansprechen, wenn die Scham zu groß ist. Die Scham kann stärker sein als Wünsche und Liebe. Doch die Gefühle kämpfen: Werden die Wünsche und die anderen Gefühle größer als die Scham, kann man die Scham überwinden.

Manche schämen sich schneller als andere

Es gibt Menschen, die schämen sich ganz leicht und werden leicht rot. Viel öfter, als andere Menschen. Das sind oft solche Menschen, die viel zu viel von sich selbst erwarten. Sie sind oft streng erzogen worden und ihre Eltern schimpften oft plötzlich, ohne dass sie als Kind verstehen konnten, warum. Manchmal fühlen sich diese Menschen schuldig für Dinge, für die sie gar nichts können. „Ich hätte wissen müssen, dass der andere so denkt“, sagen sie zum Beispiel. Dabei kann man nicht wissen, was der andere denkt. Also braucht man sich auch nicht dafür zu schämen, dass man nicht hellsehen kann.

Scham ist so anstrengend, weil man ausgerechnet das verstecken will, was natürlich an einem ist.

Scham darf sein

Sich zu schämen ist ein furchtbar unangenehmes Gefühl. Es ist anstrengend und die Scham kann drücken wie ein Schmerz. Sie kann uns aber auch davor schützen, dass uns andere Menschen zu nahe kommen. Oft können wir die Scham nicht verhindern. Manchmal möchte man etwas sagen, von dem man noch nicht weiß, ob es gut ist. Wenn wir es dann sagen und die anderen finden es gut, dann hat uns unsere Überwindung weitergebracht. Wenn die anderen es aber nicht gut finden, dann schämen wir uns und haben das Gefühl, dass wir besser nichts gesagt hätten. Wichtig ist es, die eigene Scham ernst zu nehmen und sie ein bisschen wie einen Kompass zu benutzen. Man kann durch Scham lernen, was passend ist und was nicht passt, wenn wir mit anderen zusammen sind.

Schon wenn man sich nur wünscht, einem anderen näher zu sein, kann man sich schämen. Das passiert oft dann, wenn man glaubt, man sei nicht liebenswert. Oder wenn man schon mal die Erfahrung gemacht hat, dass der andere irgendwie unangenehm reagiert, wenn man sich nähert.

Masken schützen

Manchmal überlisten wir die Scham – zum Beispiel an Karneval: Da tragen alle eine Maske. Man kann sich dann fast so benehmen, wie man will. Früher trugen Schauspieler manchmal Masken, damit sie Gefühle wie Ärger, Liebe oder Neid besser darstellen konnten. Diese Art der Maske bezeichnet man als „Persona“. Da sieht man, wie eng die Begriffe „Maske“ und „Person“ zusammenhängen. Man selbst ist eine Person. Man trägt die Kleider, in denen man sich wohlfühlt und man zeigt nach außen bewusst nur das, was die anderen auch sehen sollen und dürfen.

Aufgewacht. Manchmal schämen wir uns im Nachhinein für etwas, das wir getan oder gesagt haben. Scham hat was mit Aufwachen zu tun. Scham kann zeigen, dass man jetzt mit Abstand auf das Vergangene blicken kann und dass man selbst weiter gereift ist. Adam und Eva schämten sich, als sie bemerkten, dass sie nackt waren.

Es gibt Kulturen, in denen die Frauen ihr Gesicht bedecken. Wir hier in Deutschland finden oft, dass das ein Zeichen von Unfreiheit ist. Das Gesicht hinter Tüchern zu verstecken, kann aber auch ein Gefühl von Freiheit geben, weil die anderen zum Beispiel nicht sehen können, wenn man rot wird. Aber man kann nicht alles verbergen. Wenn man kurz davor ist, zu weinen, zittert die Stimme und die anderen hören, wie es einem geht.

Auch, wenn wir nicht alles von uns zeigen möchten, so bemerken andere Menschen doch oft Dinge an uns, die wir am liebsten nicht preisgeben würden. Manchmal ist man aber auch überrascht, wie gut es tut, wenn die anderen etwas bemerken und man endlich über etwas sprechen kann, was einen schon lange bedrückt. Also: Einerseits schützt uns unsere Scham davor, dass wir den anderen zu nahe kommen oder dass sie uns zu nahe kommen, andererseits müssen wir die Scham auch manchmal überwinden, damit wir neue Wege gehen können.

Tipps bei zu viel Scham

Wenn wir rot werden, sehen die anderen sofort, dass wir uns schämen. Und ein bisschen schämen sie sich gleich mit, denn Scham ist ansteckend. Wir wollen nicht der Auslöser für Scham sein und wir wollen uns selbst nicht schämen müssen. Doch Erste Hilfe bei Scham gibt es kaum. Genauso wenig wie man sagen kann: „Jetzt freu dich doch mal“, kann man sagen: „Jetzt schäm‘ Dich mal nicht.“

Schamgefühle kommen so plötzlich und oft so heftig, dass man sie oft einfach aushalten muss. Auf Dauer aber hilft es, die Scham genau verstehen zu lernen. Trotz aller Schwierigkeiten hier ein paar Tipps, wie Du Scham vielleicht etwas reduzieren kannst:

  1. Nimm Dich ernst. Dir fällt immer etwas ein, was du sagen könntest, aber du findest es vielleicht peinlich, das zu sagen, was dir einfällt. Daher: Lerne dich selbst gut kennen. Je besser du dich kennst, desto besser weißt du, wie, wann und warum du so denkst wie du denkst.
  2. Wenn du dich schüchtern fühlst, versuche, dieses Gefühl zu erkunden und bei dir zu bleiben. Wenn Du versuchst, die Schüchternheit zu überspielen, wirkst du künstlich, denn die anderen bemerken deine Schüchternheit wahrscheinlich sowieso. Stelle dir vor, du legst deine Schüchternheit in ein Körbchen – du vermeidest nicht die Situation, sondern du trägst dein Körbchen Schüchternheit mit dir mit.
  3. Pflege Dich gut. Mache Bewegungsmeditation oder beginne langsam mit einer Sportart. Lerne Deinen Körper kennen.
  4. Unternehme viel mit anderen und lerne Regeln kennen – vielleicht auch durch Bücher. Kleide dich eher dezent und nicht mit allzu starken Farben. Je sicherer du dich in deinem Umfeld bewegen kannst, desto weniger kannst du etwas „falsch“ machen.
  5. Achte auf Deine innere Verfassung. Was wünschst du dir jetzt? Bist du neugierig? Gut, denn Neugier ist ein Zeichen von Vitalität. Nimm sie wahr und „wisse“, dass deine Neugier da ist. Wichtig ist es, die eigene Neugier zu bemerken, denn dann kannst du sie leichter steuern. Wie neugierig darf man sein? Du darfst komplett neugierig sein – nur, wie sehr wir die Neugier zeigen und ausleben, das müssen wir vielleicht alle ein Leben lang immer wieder geduldig austarieren.
  6. Achte auf Deine „inneren Objekte“ (Vorstellungen über wichtige Menschen in uns). Manchmal schämt man sich, weil man innerlich immer noch die Stimme von Vater oder Mutter im Ohr hat, die einen als Kind beschämten. Was die Eltern früher zu einem sagten, sagt man jetzt zu sich selbst. Alleine das wahrzunehmen, kann etwas verändern. Und wenn sich nichts verändert, kannst du darüber traurig sein – auch das kann ein wichtiger Schritt zur seelischen Verdauung sein.
  7. Achte auf Deine inneren Verbote. Was verbietest Du Dir? Frage Dich, ob das innere Verbot wirklich angemessen ist. Dazu muss man es natürlich erst bemerken. Innere Verbote sind oft unbewusst.
  8. Wie fühlt sich die Scham an? Untersuche genau, wie sich das Gefühl anfühlt und wo Du es spürst. Die Scham löst oft ein Fluchtgefühl aus. Wichtig ist es, das wahrzunehmen und der Scham ein inneres Zuhause zu geben. Denn Scham kann uns auch vor zu viel Nähe schützen, uns warnen und uns helfen, uns kennenzulernen. Scham kann uns daran erinnern, was wir wirklich können, wer wir wirklich sind, was wir fantasieren und wo unsere Grenzen liegen.
  9. Hinter der Scham liegt oft eine Angst. Hier kann man sich auch fragen: Wovor habe ich Angst? Wie sicher kann ich mich fühlen oder wie bedroht fühle ich mich?
  10. Versuche, nicht größer zu erscheinen als Du bist. In Selbstbehauptungskursen lernt man manchmal, man solle aufrecht gehen und sich groß machen oder klar sprechen. Das kann manchmal hilfreich sein. Das Problem ist aber: wenn es einem nicht entspricht, wirkt das gekünstelt und man kann leichter beschämt werden, wenn ein anderer das wahre Gefühl erkennt. Wachse lieber von innen heraus. Überfordere Dich nicht. Wenn Du Dich geknickt fühlst, dann quäle Dich nicht in stolze Positionen hinein, die Dir in diesem Moment nicht entsprechen.
  11. Denke daran, dass niemand willentlich Deine Gedanken lesen kann. Manchmal wird man rot, weil einem etwas Peinliches eingefallen ist. Der andere sieht dein Rotwerden – er weiß aber nicht, was du denkst.
  12. Sei geduldig mit Dir selbst.

Verwandte Artikel in diesem Blog:

Inspiriert durch:

Deutsches Hygiene-Museum Dresden:
Scham – 100 Gründe, rot zu werden
www.dhmd.de/ausstellungen/rueckblick/scham/

Konrad Schüttauf (2008):
Die zwei Gesichter der Scham.
Psyche- Z Psychoanal 62, 2008: 840-865, Klett-Cotta

Leon Wurmser, MD:
Shame and its Vicious Cycles
Prague, IPA Meeting 2013.
Kongresspapier

Dieser Beitrag erschien erstmals am 28.12.2013
Aktualisiert am 22.3.2024

One thought on “Scham – Gefühle erklärt für Kinder. Was kann ich gegen zu viel Scham tun?

  1. Laura sagt:

    Hallo,

    danke für den tollen Beitrag. Um die Kindergefühle richtig deuten zu können, sollten wir als Eltern immer ein offenes Ohr haben, ruhig sprechen, geduldig sein, auf Mimik und Körpersprache achten und stets Zuneigung zeigen.

    Diese und weitere tolle Tipps haben wir auf dieser Seite entdeckt

    https://www.liebeserklaerung-an-mein-kind.de/liebe-und-zuneigung/

    Liebe Grüße,

    Laura

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